Der Marquis de Sade – Bluthusten der Kultur
Donatien Alphonse François Marquis de Sade ist der Bluthusten der europäischen Kultur. Als die Körper der Rokoko-Aristokraten immer muskelschwächer wurden stieß er mit kraftvollem Arm die Fenster der schlecht belüfteten Salons ein. Die Schuld lag nicht bei D.A.F., wenn nun, statt ersehnter Morgenluft, der Gestank des Schlachthauses einströmte, und jauchefahle Fratzen der frische Duft warmen Blutes zum Erbrechen reizte. (Ernst Ulitzsch)
Vor gut 200 Jahren (am 2. Dezember 1814) ist er verstorben, der selbsternannte Libertin, der ebenso freiheitsliebende wie umtriebige Marquis de Sade. Professor des Verbrechens wurde er genannt, Höllendiktator des Materialismus, Choreograf des Bösen.
Der Historiker Volker Reinhardt, Professor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Fribourg in der Schweiz beleuchtet in einer akribisch recherchierten und überaus lesenswerten Biographie das Leben und Werk des Mannes neu, der mehr ist als nur ein philosophierender Psychopath. De Sade, so Reinhardt, hat das Böse vermessen.
Im Vorfeld der Französischen Revolution spielte de Sade eine gewichtige Rolle. Seine anonym verbreiteten Schriften halfen, den Umsturz einzuleiten. Doch Napoleon ließ den Aristokraten und Lebemann, der sich selbst Homme des Lettres, Schriftsteller, nannte 1801 für immer wegsperren. Mit dem Autor verschwanden auch die Bücher. Erst das französische Fin de Siècle befreite de Sade 100 weitere Jahre später aus seiner Verbannung in den Verliesen der Bibliotheken. Männer wie Baudelaire und Apollinaire holten de Sades Bücher wieder ans Licht und trugen sie auch nach Deutschland.
Man muß immer auf Sade, das heißt auf den natürlichen Menschen zurückgreifen, um das Böse zu verstehen. (Charles Baudelaire)
Es scheint, daß die Stunde gekommen ist für diese Ideen, die in der dumpfen Atmosphäre der Unterwelt der Bibliotheken reif geworden sind, und dieser Mann, der nichts zu gelten schien während des gesamten neunzehnten Jahrhunderts, könnte gut das zwanzigste beherrschen. (Guillaume Apollinaire)
In den Schriften de Sades spiegelte sich für die Leser des frühen zwanzigsten Jahrhunderts die Rebellion gegen die Absurditäten der menschlichen Existenz, hier wurde wie in der Freudschen Psychoanalyse das finstere Innenleben der menschlichen Seele offengelegt, hier spiegelte sich die Irriation und die Rebellion gegen die Irrationalität der Moderne. De Sade, der bis dato verdammungswürdige Pornograph, wurde wieder zu dem radikalen Aufklärer als den sich der Marquis stets selbst gesehen hatte. Dazu Volker Reinhardt:
Leben und Werk des Marquis de Sade (wurden) zu einer Projektionsfläche und damit auch zu einem Spiegelbild der Moderne, die sich selbst, ihre Befindlichkeiten, Errungenschaften und Fehlentwicklungen darin zu entdecken glaubte.
Angezogen und abgestoßen zugleich stiegen Literaten und Philosophen hinab in die finstere Unterwelt des Marquis. Je brutaler die historischen Realitäten, desto intensiver die Beschäftigung.
Nicht ohne Grund räumen kurz nach Ende des Nationalsozialismus auch Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in ihrer Dialektik der Aufklärung de Sades Philosophie breiten Raum ein.
De Sade hat den Staatssozialismus zu Ende gedacht, bei dessen ersten Schritten St. Just und Robespierre gescheitert sind. Seine chronique scandaleuse der Juliette, die, wie am laufenden Band produziert, im Stil des 18. Jahrhunderts die Kolportage des 19. und die Massenlitertaur des 20. vorgebildet hat, ist das homerische Epos, nachdem es die letzte mythologische Hülle noch abgeworfen hat: die Geschichte des Denkens als Organ der Herrschaft. Indem es (das Denken) nun im eigenen Spiegel erschrickt, eröffnet es den Blick auf das, was über es hinaus liegt. (Horkheimer/Adorno – Dialektik der Aufklärung)
Der bislang verkannte de Sade wird von Horkheimer und Adorno zum radikalen Arm der Aufklärung, gewissermaßen zu ihrem extremistischen Flügel erklärt. Eine ähnliche Quintessenz liefert auch Volker Reinhardt in seiner Biographie. In seinen Romanen und Schriften zeige de Sade, daß aus dem Zweikampf von Vernunft und Moral nur ein verdammenswerter Dritter als Sieger hervortritt: der Totalitarismus. Der von Kant propagierte Ausgang des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit gipfelt bei de Sade in einer totalen/totalitären Freiheit, die am Ende nur noch Gewalt und Vernichtung kennt. Gleichzeitig, so Reinhardt, ist das Verlangen der Sex- und Gewaltmonster des Marquis am Ende doch nur ein Streben nach Nichts. So löst sich de Sades Philosophie im Boudoir einfach in Nihilismus auf.
Fatal ist nur: de Sade selbst zu lesen ist eine Qual. Tausende engbedruckte Seiten voller Folter- und Lustszenen, Massenorgien, Mord, Verrat, Gewalt und niederträchtiger Grausamkeit. In ihrer ständigen Wiederholung abstumpfend, ermüdend und alles andere als lustvoll. Im endlosen Gewalt-Stakkato gehen die selten aufblitzenden philosophische Gedanken einfach unter. Wer sich das antut braucht, starke Nerven und sehr viel Geduld.
Obendrein sind ungekürzte und unverfälschte Augaben in deutscher Sprache rar. Passend dazu eine weitere runde Zahl: vor 110 Jahren hat Raoul Haller die erste (nahezu) vollständige deutsche Übersetzung von des Sades Opus Magnum JUSTINE oder Die Leiden der Tugend. Gefolgt von JULIETTE oder Die Wonnen des Lasters vorgelegt. Sie wurde bis heute in ihrer Qualität und Monumentalität nicht übertroffen. Franz Greno hat sie 1987 erneut verlegt; sie ist antiquarisch noch realitiv leicht zu finden. Schwieriger wird es bei den ebenso gewichtigen wie wichtigen Werken Die 120 Tage von Sodom oder Die Philosophie im Boudoir. Das Literaturverzeichnis im Anhang der Biographie von Volker Reinhardt leistet dem Suchenden praktische Hilfe.
De Sade oder Die Vermessung des Bösen ist vortrefflich und packend geschrieben, zuverlässig und in der Argumentation überzeugend. Die Biographie aus der Feder von Volker Reinhardt ist unbedingt allen Lesern zu empfehlen, die sich de Sade und seiner Gedankenwelt nähern möchten. Nach der Lektüre löst sich viel von dem auf, was die Person de Sade und sein Werk nebulös umwaberte. Reinhardt klärt auf, im besten Sinne. De Sades Schriften sollte allerdings nur anrühren, wer starke Nerven und Geduld hat und sehr viel Leidensfähigkeit aufzubringen vermag.
Eine Biographie
Gebunden, 464 Seiten. Mit 60 Abbildungen, 1 Karte und 1 Stammtafel.
München: C.H.Beck 2014
Habt Ihr eine Haltung zu de Sade, zu seiner Philosophie? Ist dieser wüste Autor für Euch (noch oder wieder) aktuell? Ich würde mich sehr über Reaktionen und Diskussionen freuen.