Philosophenalltag und Fischgrätengras – »Lampe und sein Meister Immanuel Kant« von Antje Herzog
Die Philosophie Immanuel Kants zu verstehen kann mühevoll sein. Das belegt eine Anekdote, die Carl Friedrich Zelter im Jahr 1825 Johann Wolfgang Goethe über ein Gespräch mit Kant mitteilt:
»Aber«, spricht Kant, »hast du, lieber Freund, wohl auch einmal Lust, meine Schriften zu lesen?«
»O ja! Und ich würde es noch öfter tun, nur fehlen mir die Finger.«
»Wie versteh’ ich das?«
»Ja, lieber Freund, Eure Schreibart ist so reich an Klammern und Vorbedingtheiten, welche ich im Auge behalten muß; da setze ich den einen Finger aufs Wort, dann den zweiten, dritten, vierten, und ehe ich das Blatt umschlage, sind meine Finger alle.«
Für das Buch Lampe und sein Meister Immanuel Kant von Antje Herzog sind lediglich zwei Finger nötig, nämlich zum Umblättern der Seiten. In denen steckt neben viel Wunderlichem aus Kants Leben auch eine gehörige Portion seiner Philosophie. »Kant strahlte sein Denken förmlich aus«, sagt Antje Herzog. »Er lebte seine Philosophie, befolgte sie akribisch.« Die Graphikdesignerin animiert ihre Leser mit viel Witz, in das Leben Kants und seine Philosophie einzutauchen. Kurze Sequenzen aus Kants Lehre, seine bekanntesten Sätze, durchbrechen den heiteren Reigen aus Anekdoten und Nachdenklichkeiten auf.
»Es sind gerade einmal knappe 191 Wörter, mit denen Kant im Original zitiert wird«, fügt Antje Herzog als Entwarnung hinzu. »Die einzige Schwierigkeit könnte sein, dass ich sie in der Handschrift Kants wiedergebe, einer leicht abgewandelten Kurrentschrift des 18. Jahrhunderts. Man muss sich ein wenig einlesen.« Kants Diener Lampe dagegen spricht in Fraktur, seinem Naturell als ehemaliger preußischer Soldat angemessen. Das eigenwillige, aber treffende Handlettering der Graphic Novel verlangt anfangs etwas Konzentration, ist aber sehr stimmig eingesetzt.
»Der Name Lampe muß nun völlig vergessen werden!«
Lampe und sein Meister Immanuel Kant ist keine klassische Biographie. Antje Herzog beschreibt das Leben des großen Philosophen der Aufklärung in kurzen Anekdoten und Episoden. Sie zeigt, wie streng er seinen Tagesablauf taktet, beschreibt, wie er sich auf spezielle Weise in sein Betttuch wickelt, wie er die Nachtmütze zur Kerze anordnet, damit beim Lesen im Bett nichts anbrennt, erzählt von Störenfrieden, die seine Konzentration behindern und dass er sich auf die jährliche Rückkehr einer Grasmücke in seinem Garten freut. Besonders drastisch reagiert er schließlich auf die Trunksucht und Nachlässigkeit seines treuen Dieners Lampe. »Er entlässt ihn schweren Herzens und schreibt sich Notizzettel, die ihm auftrugen, den Namen Lampe umgehend und vollständig zu vergessen«, so Herzog. »Es rührt mich, wie dieser größte aller Denker sich auf so menschelnde Art mit der Trennung seines Dieners befasst hat.« Immerhin hatte Martin Lampe seinem Meister Kant mehr als vierzig Dienstjahre treu zur Seite gestanden.

Antje Herzog nimmt die Marotten des großen Königsberger sehr ernst. »Schrulligkeit und Genie bilden bei Kant eine lebensnotwendige Symbiose.« Erfunden hat die Illustratorin nichts, sondern schöpfte aus zeitnahen Quellen und Biographien Kants. »Zwar wurde Kant erst im fortgeschrittenen Alter sonderbarer, aber gerade in dieser Zeit, ab 1791, schrieb er auch seine großen Hauptwerke. Diese großen Gedankengebäude erwuchsen auf dem Fundament eines penibel geregelten Alltags, einer Mischung aus unumstößlichen Gewohnheiten und Sturheit. Das hat mich fasziniert.«

Die Liebe zu Kant und seiner Philosophie erwachte bei Antje Herzog während ihres Studiums. »Seit acht Jahren lese ich intensiv seine Werke, befasse mich mit seiner Person und seinem Charakter. Diese Graphic Novel spukt mir schon lange als Herzensprojekt im Kopf herum. Ich musste sie einfach zeichnen, obwohl sie mich lange gebunden hat.« Die reine Zeichenarbeit beansprucht schließlich mehr als eineinhalb Jahre. In eine Doppelseite steckt Antje Herzog drei bis fünf Arbeitstage. »Das hängt mit meinem Zeichenstil zusammen, den ich während einer Weltreise nach meinem Studium entwickelt habe«, erklärt sie. »Für großes Malbesteck war kein Platz im Rucksack, so zeichnete ich damals mit einem Tuschefüller kleinteilige Skizzen und Bilder. Das habe ich beibehalten. Ein spezieller japanischer Stift und eine besondere Tusche aus den USA sind meine liebsten und einzigen Werkzeuge.« Herzogs Illustrationen bestechen durch Treue zum historischen Detail und einer Liebe zu feinen, der Natur abgeschauten Texturen. »Wenn ich irgendwo in einer Zeichnung Fischgräten-Gras unterbringen kann, bin ich glücklich.«
Die gesamte Epoche der Aufklärung zieht Antje Herzog magisch an. Wissenschaft, Kunst und Literatur der Zeit faszinieren sie und die großen Persönlichkeiten wie Humboldt, Forster, Goethe und eben Kant. »Begegnen mir preußische Themen, muss ich unwillkürlich schmunzeln. Es ist diese Kombination aus Ordentlichkeit, Disziplin und Pünktlichkeit. Daraus ergeben sich viele menschlich-fehlbare Geschichten, die häufig unfreiwillig komisch sind.« Bei Kant, fügt sie hinzu, sei es schließlich unausweichlich gewesen, alles verfügbare Material zu sammeln und in einem Buch aufzuzeichnen.

»Philosophie ist gelb.«
Liebevoll transportiert Antje Herzog in ihren Zeichnungen die Atmosphäre des 18. Jahrhunderts. Nur eine Farbe schleicht sich in ihre schwarzweißen Bilder ein, die gerade in ihrer starken Limitierung so viel Eindruck erwecken: ein warm-leuchtendes Gelb. »Gelb ist für mich die Farbe der Philosophie, ich kann nicht begründen warum, es ist einfach so. Bei Kant passt das hervorragend, weil er gelbe Rosen sehr liebte und Aurikeln, eine kleine gelbe Primelart. Tatsächlich hat Immanuel Kant mit Vorliebe stets gelbe oder sandfarbene Sakkos getragen.«
Die Hauptwerke Kants, die drei großen Kritiken, spielen in Lampe und sein Meister Immanuel Kant allenfalls Nebenrollen, die Hauptrolle übernimmt der Mensch Kant. »Ganz ehrlich: ich maße mir nicht an, mittels Illustrationen Kants Philosophie zu erläutern.« Aber eins kann Antje Herzogs humorvolle Graphic Novel definitiv: Sie verführt dazu, die großen Schriften Kants erneut oder erstmals in die Hand zu nehmen. Denn der schrullige Professor aus Königsberg hat der Welt ein bis heute bedeutendes Werk hinterlassen. Ein Fundament der Aufklärung.

Graphic Novel
Gebunden, Fadenheftung, handgelettert, 152 Seiten
Frankfurt/M.: Edition Büchergilde 2017
Mehr Informationen und eine Leseprobe auf der Webseite des Verlages
Antje Herzog, geboren 1981, studierte Design und Illustration an der Hochschule Düsseldorf sowie Animation und Animationsfilm an der Konstfack-Universität in Stockholm. Sie ist stellvertretende Vorsitzende der Illustratoren Organisation e. V. Seit 2008 lebt und arbeitet Antje Herzog als Illustratorin in Köln. (Link zu Antje Herzogs Webseite.)
Dieser Beitrag ist leicht gekürzt zuerst im Büchergilde-Magazin, Quartal Zwei, 2017 erschienen. Hier das Magazin als PDF.