Roland Barthes – Die helle Kammer
Was ist das Wesen der Photographie, was macht ihre Anziehungskraft aus? In seinem assoziativen Essay hat Roland Barthes Antworten auf diese Frage gesucht. In „Die helle Kammer“ (erschienen 1980) entwickelt der farnzösische Philosoph Grundbegriffe und Kategorien der Phototheorie. Das Standardwerk in einer neuen Ausgabe.
Barthes persönliche Anmerkungen zur Photographie
Es war das letzte Werk, das der französische Philosoph zu Lebzeiten veröffentlichte. „Die helle Kammer“ erschien 1980 und ist kein wissenschaftliches, streng methodisches Werk, sondern eine ganz subjektive Annäherung an das Wesen der Photographie. Mittlerweile gilt der Text als eines der Standardwerke zur Photographie. Eine schön gestaltete Neuausgabe in der Bibliothek Suhrkamp (handlich mit angenehm rot gefärbten Leineneinband, Fadenheftung und Lesebändchen) war Anlass, den Text noch einmal zu lesen. Jeder, der sich über technische Aspekte hinaus für Photographie interessiert, findet in Barthes spätem melancholischen Theorieroman hilfreiche Anregungen, das Wesen der Photographie zu verstehn.
Ausgehend von der Betrachtung einer Fotografie, die den jüngeren Bruder Napoleons zeigt, spürt Barthes im ersten Teil seines Essays der eigentümlichen Faszination nach, die einzelne Photos beim Anschauen auszulösen vermögen. („Damals“, so Barthes, „sagte ich mir mit einem Erstaunen, das ich seitdem nicht mindern konnte: Ich sehe die Augen, die den Kaiser gesehen haben.“) Dieses Erstaunen führte Barthes zu einer kulturell bestimmten Hinwendung zur Photographie. In kurzen Abschnitten entwickelt er, leicht nachvollziehbar, eine Art Phänomenologie der Photographie, die auch Positionen anderer Autoren einbezieht und reflektiert.
Barthes zentrale Begriffe sind: studium und punctum. Das studium bezeichnet das allgemeine Interesse an einer Fotografie und wird wesentlich gesteuert vom kulturellen Hintergrund des Betrachters. Es drückt wohlwollende Wißbegierde aus oder Verstehen im Sinne des Nachvollziehens der Intentionen des Photographens. Studium, so Barthes, gehört zum Feld des „Ich mag“, aber nicht zum Feld des „Ich liebe“. Das punctum jedoch durchbricht das studium; erst das punctum macht eine Photographie zum sinnlichen Ereignis, das berührt.
Diesmal bin nicht ich es, der es aufsucht (wohingegen ich das Feld des studium mit meinem souveränen Bewußtsein ausstatte), sondern das Element selbst schießt wie ein Pfeil aus seinem Zusammenhang hervor, um mich zu durchbohren. (…) Das zweite Element, welches das studium aus dem Gleichgewicht bringt, möchte ich daher punctum nennen; den punctum, das meint auch: Stich, kleines Loch, kleiner Fleck, kleiner Schnitt – und Wurf der Würfel. Das punctum einer Photographie, das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft).
Auch am Beginn des zweiten Teils des Textes steht wieder die Betrachtung einer Photographie, diesmal ein Bild der verstorbenen Mutter Barthes. Dieses private Photo läßt Barthes, anders als die zuvor untersuchten öffentlichen Bilder (meist klassische Reportagephotos), noch tiefer vordringen zur eigentlichen Natur (griech: eidos) der Photographie. Genau jene Photograhpie, die Barthes am heftigsten anrührt und bewegt, ist nun aber bezeichnenderweise nicht unter den Abbildungen, die er dem Text beigefügt sind.
Ich kann das Photo (…) nicht zeigen. Es existiert ausschließlich für mich. Für Sie wäre es ein belangloses Photo, eine der tausend Manifestationen des absolut beliebigen Gegenstandes überhaupt; (…) bestenfalls würde es für Ihr studium von Interesse sein; (…) doch verletzen würde es Sie nicht im mindesten.
Ab hier läßt Barthes das vermeintlich dokumentarische Wesen der Photographie hinter sich und fokusiert die vanitatische Wiederkehr des Toten in ihrer Momenthaftigkeit. Das Photo (der Mutter) ruft im Betrachter (Barthes) eine Meditation über die stillgelegte Zeit herauf. Es ist radikal inaktuell, stockt die Zeit, blockiert die Erinnerung und markiert das plötzliche Auftauchen eines gewöhnlichen Todes außerhalb von Religion und Ritual. Darin steckt die eigentliche Kraft der Photographie und die Gesellschaft ist bestrebt, diese Kraft zu zügeln. Entweder gelingt das, so Barthes, indem die Gesellschaft (die Kultur) die Photographie der Vernunft unterwirft und zur Kunst macht, den keine Kunst ist verrückt. Oder die Gesellschaft vulgarisiert die Photographie indem sie sie tausendfach verfügbar und banal macht.

Aus d. Französischen von Dietrich Leube.
Mit zahlreichen Photographien.
Geb. 138 Seiten.
Frankfurt/M.: Bibliothek Suhrkamp 2009
„Die helle Kammer“ ist ein philosphischer Text, der sowohl den semiotischen als auch den poetischen Dimensionen der Photographie gerecht wird; ein Essay, der berührt und lange nachklingt. Ein idealer Einstieg in die Beschäftigung mit der Phototheorie.