The Greatest Movie Never Made – Kubricks Napoleon
Stanley Kubrick ist einer der größten und eigenwilligsten Filmemacher der Kinogeschichte. Mit dieser Beurteilung stehe ich keineswegs allein auf weiter Flur. Jedes seiner Werke ist einzigartig in Bildsprache und Stil. Mit jeder Sichtung gewinnen die Filme, wird deutlich wie unvergleichlich Kubricks Ausnahmestellung in der Filmgeschichte des 20. Jahrhunderts ist. Seinen größten und besten Film aber hat er niemals gemacht. Mit und gegen Napoleon hat er 40 Jahre gekämpft. Bereits unmittelbar nach der (übrigens desaströsen) Uraufführung von 2001. Odysse im Weltraum sollte die Produktion von Napoleon beginnen, geplant war eine Charakterstudie des Empereurs Napoleon Bonaparte, eingebettet in einem monumentalen Epos mit üppiger Ausstattung, grandiosen Schlachtszenen und tausenden von Komparsen und Kleindarstellern. Allein, das alles blieb nur Traum. Napoleon wurde nie realisiert, doch das umfangreiche Material aus der Recherche- und Vorproduktionszeit blieb in Kubricks Archiv erhalten. Allison Castle hat daraus das das Buch gemacht zum großartigsten Film, der niemals gemacht wurde.
Wer Barry Lyndon kennt, bekommt eine Ahnung, wie Napoleon hätte aussehen können. Mehr als zwei Jahre lang hat Kubrick für sein Projekt recherchiert. Er hat mehrere Mitarbeiter mit der Materialsammlung betreut und intensiv mit einem Geschichtsprofessor und renomierten Bonaparte-Experten aus Oxford zusammengearbeitet. Jedes noch so kleine Detail hat Kubrick gesammelt und studiert. Doch alle Vorarbeit war vergebens, die Studiobosse wollten den Film nicht. Historiendramen seien nicht mehr gefragt, lautete lapidar ihr Urteil.
Kubrick gab sich geschlagen, sein Material wanderte ins Archiv. Allison Castle hat es geborgen, gesichtet und als Hommage an ein unvollendetes Meisterwerk bei Taschen veröffentlicht. Zunächst nur in einer kostspieligen Faksimilebox mit zehn einzelnen Bänden und losem Material. Der Sammleredition folgte eine preiswerte Ausgabe in einem Band; bei der sollte jeder Filmfan zugreifen.
The Greatest Movie Never Made
Herausgeg. von Allison Castle
Gebunden, 1112 Seiten
Köln: Taschen 2011
Alle Bücher der Originalausgabe sind hier in Faksimile abgedruckt, darunter Kubricks Schriftwechsel, Kostümzeichnungen, Fotos möglicher Drehorte, Recherchematerialien, Drehbuchentwürfe und vieles mehr. Man kann ihm förmlich beim Filmemachen über die Schulter schauen. Selbstverständlich ist auch Kubricks endgültiger Drehbuchentwurf vollständig abgedruckt. Hinzu kommen Essays, die Kubricks Vorarbeiten zum Film aus historischer und dramatischer Sicht beleuchten und obendrein faszinierende Einblicke in die rätselhafte Persönlichkeit des Napoleon Bonaparte erlauben.
Im folgenden Video vom Taschen Verlag berichten Allison Castle, Christiane Kubrick und Jan Harlan mehr zum Film und zum Buch.
Beigegeben ist dem Buch ein Online Code, der Zutritt gewährt zu einer Datenbank mit fast 17.000 Bildern aus der Napoleon-Zeit – Kubricks gesamter Bilderschatz zum Durchsuchen und Herunterladen.
Herausgegeben von Allison Castle
Gebunden, Großformat 544 Seiten
Köln: Taschen 2008
Bereits zuvor hat sich Allison Castle intensiv mit den Archiven Kubricks beschäftigt. Für sie öffneten sich erstmals die Türen zum immensen Nachlaß des Regisseurs. Für jeden seiner Filme hat Kubrick wahre Berge von Material gesammelt. Fotos, Modelle, Zeichnungen, Bücher, Skriptentwürfe und Requisiten; in jedem Raum des an Räumen nicht gerade armen Anwesens in der Nähe Londons lagerten Säcke und Kisten. Kubrick konnte und wollte einfach nichts wegschmeißen. Noch mehr Material wurde in Containern hinterm Haus untergebracht. Das Stanley Kubrick Archive zu ordnen und auszuwerten, war für alle Beteiligten keine leichte, aber eine überaus spannende und lohnenswerte Aufgabe.
Im vorliegenden Band hat Alison Castle in enger Zusammenarbeit und Abstimmung mit Kubricks Ehefrau Christiane Kubrick und seinem Schwager Jan Harlan versucht, einen ersten Überblick über das hinterlassene Material zu geben. Dabei wird im ersten Teil zunächst in Bildern geschwelgt. In chronologischer Abfolge werden zum Teil noch nie gezeigte film stills aus Kubricks Filmen präsentiert.
Diese, nicht zuletzt durch das Format von 41 cm x 30 cm, oppulente Fotostrecke kommt ganz ohne begleitende Texte oder Kommentare aus, ganz wie es dem Meister gefallen hätte, denn Erklärungen zu seinen Filmen hat er immer konsequent abgelehnt. Alle Fotos wurden direkt von den Originalnegativen gescannt. Der zweite Teil des Buches widmet sich dann ausführlich den einzelnen Entwicklungsstufen von Kubricks Arbeit. Darin enthalten: Archivbilder, Requisiten, Auszüge aus den Skripts und Drehbüchern (auch einiges von den nicht vollendeten Filmprojekten Napoleon und Aryan Papers), Notizen, Filmplakate und Gespräche mit engen Mitarbeitern und Kennern des Kubrickschen Kosmos. Und obwohl der Leser hier nur Einblicke in eine kleine Auswahl der vorhandennen Archivalien erhält, bekommt er doch einen Eindruck davon, wie akribisch und sorgfältig Kubrick jeden seiner Filme vorbereitet und geplant hat. Zusätzlich enthält das Werk eine Audio-CD, auf der einige der ausgesprochen raren Interviews mit Stanley Kubrick aufgezeichnet sind.
Zählt man seine ersten Gehversuche im Filmgeschäft mit, dann hat Stanley Kubrick insgesamt nur 16 Filme gemacht. Doch die sind, da sind sich Kritiker und Fans einig, allesamt einzigartige Meisterwerke. Kubrick hat, wie kaum ein anderer Filmemacher, die Entwicklung des Kinos in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt. So verschieden auch Sujets, Stories und Bildgestaltung waren, immer haben Kubricks Filme diesen besonderen Look. Nicht umsonst sagt Martin Scorsese: „Wir sind alle Kinder von David W. Griffith und Stanley Kubrick.“