merk=würdig (IX) – Das Böse flackert auf der Leinwand
Vor fünf Jahren ist der US-amerikanische Historiker und Soziologe Theodore Roszak verstorben. Ende der sechziger Jahren prägte er in seinen Forschungen den Begriff der »Gegenkultur« und beschrieb die Mechanismen, mit denen die Opposition der Jugend in einer technokratischen Gesellschaft angetrieben wird. Neben seinem Standardwerk zur Protestbewegung und anderen wissenschaftlichen Büchern hat Roszak auch mehrere Romane verfasst. Der bekannteste und beste ist Flicker aus dem Jahr 1991. Es hat lange gedauert, bis Friedrich Mader diesem Meisterwerk der Weltverschwörungsliteratur eine deutsche Übersetzung gegönnt hat. Sie erschien 2005 unter dem Titel Schattenlichter als Taschenbuch im Heyne Verlag.
Zu jener Zeit grassierte das große Dan-Brown-Fieber, doch die Mitnahmeeffekte, auf die Heyne spekuliert hatte, blieben aus, woran sicher auch das lieblos gestalteten Cover der Taschenbuch-Originalausgabe eine Mitschuld trug. Die Dan Brownsche Da-Vinci-Welle schlug gnadenlos über Schattenlichter zusammen und spülte alle Aufmerksamkeit, die dieser furiose Roman verdient hätte, einfach fort. Schattenlichter ging gnadenlos unter. Hier mein Plädoyer, sich die mitreißende Verschwörungsgeschichte noch einmal vorzunehmen.
Max Castle – Ein Besessener
Die Filmgeschichte kennt zahllose gescheiterte Filmprojekte, denen der Nimbus künstlerischen Größenwahns eingeschrieben ist. Berühmt-berüchtigt sind Orson Welles The Other Side Of The Wind und Stanley Kubricks Napoleon. Theodor Roszak erfindet für Schattenlichter ein weiteres, nämlich Der Märtyrer von Maximilian von Kastell.
„Meinen ersten Max-Castle-Streifen habe ich in einem schmuddeligen Keller in Los Angeles gesehen.“ So beginnt der junge Filmstudent Jonathan Gates und Ich-Erzähler seine Lebensbeichte. Als er die ersten Bilder eines Castle-Films über die Leinwand flimmern sieht, ist er schlagartig Gefangener einer Obsession.
Natürlich ist Max Castle eine Erfindung. Theodore Roszak hat ihn nach dem Vorbild einer ganzen Garde berühmter Stummfilm-Regisseure modelliert. Siodmak, Murnau, Lang, Wiene, Stroheim, Sternberg; sie alle standen Pate. Wie sie hat auch Maximilian von Kastell sein Handwerk zunächst bei der UFA gelernt und sucht dann in den späten 20er und frühen 30er Jahren (mehr oder weniger freiwillig) sein Glück in Hollywood. Fortan nennt er sich Max Castle und beginnt, ausgestattet mit einem riesigen Budget, die Arbeit am opulenten Bibelstreifen Der Märtyrer. Weil Castle sich weigert, sein Elf-Stunden-Mammutwerk auch nur um eine Minute zu kürzen, jagen ihn die Studiobosse vom Hof. Als Geächteter Hollywoods und Kellerkind der Filmwirtschaft hält er sich mit billigen B-Movies, einfältigen Vampir- und Horrorstreifen irgendwie über Wasser.
Doch immer wieder dreht er heimlich Szenen nach seinen Vorstellungen und schafft dieses Material zur Seite. Die Hoffnung auf den ultimativen Film hat er nicht aufgegeben. Schließlich wird auf einer Europareise in den Wirren des Zweiten Weltkrieges sein Schiff torpediert und Max Castle für tot erklärt. Auch seine Filme verschwinden, werden tief vergraben in den Archiven. Der Regisseur Castle ist vergessen – bis …
Ja, … bis 20 Jahre später der junge Filmstudent Jonathan einen dieser verschollen geglaubten Streifen wiedersieht. Nicht der schrottige Inhalt fesselt ihn, sondern die hypnotische Kraft, mit der Castle seine Bilder gestaltet. Da ist dieses geheimnisvolle Flackern und selbst in gleißend überblendeten oder tiefschwarz eingefärbten Passagen passiert irgendwas. Etwas Mächtiges ist in diesen Bildern verborgen, etwas Dunkles und Unheimliches. Nur wo? Und was soll es bewirken? Jonathan verschreibt sich und seine Karriere als Filmwissenschaftlicher dem Werk Castles und stößt bei seinen Nachforschungen auf die »Sturmwaisen«, einer geheimnisvollen Organisation, der auch Castle ursprünglich angehörte und deren Musterschüler er war. Je tiefer Jonathan gräbt, desto unfassbarer werden seine Entdeckungen. Eine gewaltige Weltverschwörung tut sich auf, deren Anfänge in der Zeit wurzeln, als Christus noch auf Erden weilte.
Wie die Filme von Max Castle ist auch Schattenlichter vielschichtig konstruiert. Jonathan wird in den wilden Sixties gleichermaßen vom Kino und seiner kinobesessenen Freundin Clare verführt. Clare, unverkennbar diente die amerikanische Großkritikerin Pauline Kael als Vorbild, verbindet sexuelle Freizügigkeit mit Dogmatismus und linker Theorie. Von ihr lernt Jonathan (und mit ihm die Leser) alles über Filmkunst, ihre ideologische Funktion und ihre Interpretation. Jonathan reift vom reinen Toren zum Gralssucher, der schließlich dem Bösen verfällt, und je tiefer er sich in die Filme Castles vergräbt, desto größer wird die Distanz zu Clare.
Auch die Entwicklung des Kinos jagt in Schattenlichter am Leser vorbei. Von den ersten, frühgeschichtlichen Daumenkinos der Dualisten, die von der katholischen Kirche mit dem Bann der Häresie belegt wurden, über Maschinen der Templer, die den Trägheitseffekt des menschlichen Wahrnehmungsapparates auszunutzen wussten, bis hin zu den Undergroundfilmen der Siebziger spannt sich der Bogen. Nicht immer ist dabei klar, was Fiktion und was Realität ist. Roszak entwirft in seinem Roman ein System, in dem das Kino und seine Wissenschaft in einen aberwitzigen Strudel von Geheimwissenschaften und Verschwörungen geraten. Es geht um Hell und Dunkel auf der Leinwand, Gut und Böse, den im ewigen Kampf ums Seelenheil und um schwindelerregende Abgründe zwischen Licht und Schatten.
Spannender als Dan Brown
Das ist intelligent gemacht und mit der nötigen Portion Ironie und schwarzem Humor erzählt. Schicht für Schicht bohrt sich Roszak tiefer in die Geschichte des Kinos und legt die Mechanismen der Verführung und Täuschung frei. Was wie der Versuch einer Entzauberung des Filmtheaters beginnt, mündet am Ende in ein ebenso groteskes wie pointenreiches Finale, das eben diesen Zauber des Kinos für unergründbar erklärt. Vor allem für Filmfreunde ist Schattenlichter deshalb ein absolutes Muss. Wie erfinderisch Roszak vorgeht, zeigt sich in Szenen wie der, in der ein alternder und versoffener Orson Welles von seiner Arbeit mit Castle an der Verfilmung von Conrads Roman Herz der Finsternis berichtet. Diese Großtat der Filmkunst scheiterte und blieb unvollendet. (Zwar gelang Francis Ford Coppola als Regisseur der nächsten Generation eine filmische Adaption, die es in die Kinos schafft, doch riss er mit Acopalypse Now ein Filmstudio in den Ruin.)
Schattenlichter von Theodore Roszak ist viel besser als jeder Schmöker von Dan Brown. Beinahe körperlich läßt der Roman seine Leser spüren, wie die Kraft des Kinos in die »unterirdische Dimension des Bewusstseins« (Roszak) vorzudringen vermag. Max Castle mixt aus Licht und Schatten eine Essenz des Bösen, ist besessen von Augen und der von ihnen ausgehenden Macht der Blicke.
Aus dem amerikanischen Englisch von Friedrich Mader
Broschur, 880 Seiten (Originalausgabe)
München: Heyne Verlag 2005
Der spannende und intelligente Roman von Theodore Roszak ist zu günstigen Preisen bei einschlägigen Anbietern antiquarischer Bücher leicht verfügbar.
Titelbild: Still aus Tol’able David (1921) von Henry King | Quelle: Wikimedia Commons