Georg Heym – Zwei Gedichte (oder drei)
Am 16. Januar 1912, also vor 103 Jahren, ist der Schriftsteller Georg Heym gestorben. Er ertrank beim Schlittschuhlaufen auf der Havel, als er seinen eingebrochenen und ertrinkenden Freund Ernst Balcke retten wollte. Vor allem wegen seiner lyrischen Werke und Entwürfe gilt Heym als einer der wichtigsten Vertreter des frühen literarischen Expressionismus. Seine Gedichte berühren mich immer wieder und sind nicht selten immer noch verblüffend aktuell. Zur Erinnerung an den großen Expressionisten habe ich zwei Gedichte ausgewählt.
Der Gott der Stadt
Auf einem Häuserblocke sitzt er breit,
Die Winde lagern schwarz um seine Stirn.
Er schaut voll Wut, wo fern in Einsamkeit
Die letzten Häuser in das Land verirrn.Vom Abend glänzt der rote Bauch dem Baal,
Die großen Städte knien um ihn her.
Der Kirchenglocken ungeheure Zahl
Wogt auf zu ihm aus schwarzer Träume Meer.Wie Korybanten-Tanz dröhnt die Musik
Der Millionen durch die Straßen laut.
Der Schlote Rauch, die Wolken der Fabrik
Ziehn auf zu ihm, wie Duft von Weihrauch blau.Das Wetter schwält in seinen Augenbrauen.
Der dunkle Abend wird in Nacht betäubt.
Die Stürme flattern, die wie Geier schauen
Von seinem Haupthaar, das im Zorne sträubt.Er streckt ins Dunkel seine Fleischerfaust.
Er schüttelt sie. Ein Meer aus Feuer jagt
Durch eine Straße. Und der Glutqulam braust
Und frißt sie auf, bis spät der Morgen tagt.
Der Gott der Stadt ist zweifelsohne Georg Heyms bekanntestes Werk und enthält nahezu alle Themen und Motive, die ihn beschäftigten: den Tod, die Großstadt, die Ohnmacht des Menschen in Grenzsituationen und als Spielball der Geschichte und des Schicksals. Sein reifes lyrisches Werk schuf Heym ab 1910/11 in lediglich zwei Jahren. Das zweite von mir ausgewählte Gedicht zeigt, wie sehr er sich auch von den Franzosen Rimbaud und Baudelaire anregen und beeinflussen ließ.
Alle Landschaften haben …
Alle Landschaften haben
Sich mit Blau erfüllt.
Alle Büsche und Bäume des Stromes,
Der weit in den Norden schwillt.Leichte Geschwader, Wolken,
Weiße Segel dicht,
Die Gestade des Himmels dahinter
Zergehen in Wind und Licht.Wenn die Abende sinken
Und wir schlafen ein,
Gehen die Träume, die schönen,
Mit leichten Füßen herein.Cymbeln lassen sie klingen
In den Händen licht.
Manche flüstern und halten
Kerzen vor ihr Gesicht.
»Georg Heym war nie eigentlich schulebildend. Trotzdem hat er bedeutenden Einfluß ausgeübt. Brecht hat viel von ihm gelernt. Auch die Dichter der neuen Sachlichkeit und des Naturgedichtes haben Anregungen von ihm empfangen. Seine letzten Gedichte haben den Surrealismus in manchem vorausgenommen.« – So Walter Schmähung in seinem Artikel über Georg Heym in der Neuen Deutschen Biographie; Band: 9, Hess – Hüttig, S. 85-87; Berlin: 1972. Der gesamte Artikel ist hier online zu lesen.
Ein drittes Gedicht von Georg Heym, diesmal zum Hören. Ophelia vorgetragen von Corinna Kirchhoff und bebildert vom Youtube-User wortlover.
Eine Auswahl der wichtigsten Werke Heyms sind online unter anderem im Gutenbergprojekt zu finden oder bei zeno.org.