»Unterwerfung« – Erster Zwischenstand
Michel Houellebecq und sein aktueller Roman Unterwerfung sorgen für Diskussionen oder sollten für Diskussionen sorgen. Wie ich werden an diesem Wochenende viele Leserinnen und Leser die deutsche Ausgabe des Buches (Übersetzung von Norma Cassau und Bern Wilczeck, erschienen bei Dumont Buchverlage) aufschlagen und in gespannter, gemischter oder einfach nur neugierig-entspannter Haltung mit der Lektüre beginnen. Thomas hat in auf seinem Blog Brasch & Buch treffend angemerkt, dass der Dumont Buchverlag die Chance verpasst habe, eine lesebegleitende Plattform, also die Möglichkeit für ein Social Reading des (zumindest in Frankreich schon) kontrovers diskutierten Textes einzurichten. Vielleicht war das einfach nachlässig, vielleicht wurde eine solches Angebot aber auch bewußt unterlassen, weil man mögliche (und/oder wahrscheinliche?) vergiftete Diskussionen vermeiden und/oder umgehen wollte.
Wie wäre es, wenn wir das in einem kleineren Rahmen selbst organisieren? Dazu am Ende des Beitrages mehr.
Erste Notizen zur Lektüre
Ich bin mittlerweile auf Seite 75 von Unterwerfung angelangt. Mein Eindruck bisher? Michel Hoeullebecq liefert eine exakte, bisweilen sehr amüsante Analyse des derzeitigen Gesellschaftssystem in Frankreich; in den Brennpunkt der Lupe genommen wird insbesonders die gebildete, wohlhabende Mittel- bis Oberschicht. Der Ich-Erzähler (wieder einmal einer jener leicht zotigen, frustrierten, wahlweise zum Zynismus oder zur Resignation neigenden, houellebecqschen Alter-Ego-Typen) ist Universitätsdozent für Literaturwissenschaften, ein Spezialist für das 19. Jahrhundert. Er und seine Kollegen zeigen sich unerschütterlich und sicher in ihren Ansichten und halten sich irgendwie für Mitglieder einer sakrosankten Kaste, der nichts passieren wird, egal was im Land geschieht. Das System funktioniert einfach.
Am ersten Wahlabend setzen sich beim Rennen um den Präsidentenposten die Kandidaten des Front National und der Bruderschaft der Muslime durch, die Sozialisten werden knapp geschlagen, die Konservativen vernichtend. Das ist der augenblickliche Stand (S. 75). Um den Front National zu verhindern, sind die Sozialisten gezwungen (auf Gedeih und Verderb) mit den Muslimen zusammenzuarbeiten. Eine denkbare Konstellation, wenn auch derzeit (noch) wenig real. Pikant ist auch die Bewegung der Identitären, der ein Kollege des Erzählers angehört hat (oder immer noch angehört?). Ein Zusammenschluss von »Katholiken, oft Royalisten, Laizisten, Nostalgiker, im Grunde Romantiker – zum Großteil auch Alkoholiker«, sie sind vereint und arbeiten an der Übernahme des Staates, obwohl sich die einzelnen Gruppierungen untereinander spinnefeind sind und keiner dem anderen vertraut. Einzig das dumpfe Gefühl, sich als »Ureuropäer« als Ureinwohner, die als erste auf diesem Grund und Boden gelebt haben, zu verstehen, eint sie im Vorgehen gegen die (vermeindliche) islamische Kolonialisierung Europas und im Kampf gegen die Übernahme des Landes durch amerikanische Unternehmen oder chinesische und indische Investoren, die das Land aufkaufen. Klingt das nicht nach Pegida, AfD und Co.?
Brisant auch die grob skizzierten Entwürfe zu einer gemeinsamen Schul- und Bildungspolitik der Sozialisten und der Bruderschaft der Muslime; was Houellebecq hier eine seiner Figuren formulieren läßt, ist sehr radikal, aber durchaus realistisch und vorstellbar. Aktuelle Diskussionen und Streitigkeiten im Schulwesen, auch in Deutschland, belegen das. Stichworte: radikale Trennung von Jungen und Mädchen, sowie unterschiedliche Lehrinhalte für die Geschlechter, strenge Ausrichtung am Koran, höhere Bildung nur für Ausgewählte, die Übernahme der Universitäten durch private, arabische Geldgeber (die Sorbonne wird, finanziert durch Saudi Arabien, zur reichsten Uni der Welt) usw…
Wohlgemerkt, Houellebecqs Figuren argumentieren nicht mit Schaum vorm Mund, agieren besonnen und bewegen sich immer argumentativ sicher im jeweiligen System. Unterwerfung ist bislang keine Provokation, zumindest keine, die ich zu erkennen vermag, sondern eine gut erdachte und analytische Was-wäre-wenn-Vision.
Wie weiter?
Es wäre schön, wenn andere Leserinnen und Leser des Romans ihre Eindrücke ebenso schildern könnten. Ich biete hier gerne den Kommentarbereich dazu an und Thomas hat das auf Brasch & Buch ebenfalls vorgeschlagen. Gerne können auch Links zu anderen Blogbeiträgen eingereicht werden. Ich werde sie hier sammeln und gegebenenfalls auf einer gesonderten Seite zu einer Art wachsendem Gesamtbild zusammenfügen. Es steht jeder/jedem frei mitzumachen, ohne jede Verpflichtung. Nur zu … Auf geht’s.