Houellebecq lesen – Bericht aus der Halbzeitpause
Meine Lektüre von Unterwerfung (Soumission) schreitet voran. Nachdem ich etwas mehr als die Hälfte des Buches gelesen (verschlungen!) habe, ist die Faszination am Text ungebrochen, sie mischt sich hier und da aber mit kleineren Schwierigkeiten des Verständnisses. Was nicht an Houellebecq liegt, sondern an mir, beziehungsweise meinen Kenntnissen der französischen Literatur und Geschichte.
Notizen in der Halbzeitpause
Ich bin der festen Überzeugung, dass Unterwerfung in Frankreich (oder allgemein bei Lesern, die sich in der französischen Literaturgeschichte besser auskennen als ich) in zusätzlichen Facetten zu funkeln vermag. Karl Huysmans etwa und seine Romane, der Forschungsgegenstand des Erzählers, waren/sind mir völlig unbekannt, ebenso viele andere französische Autoren des 19. Jahrhunderts, auf die Houellebecq anspielt, und die er zitiert und paraphrasiert. Auch in der Geschichte und Entwicklung der französischen Parteienlandschaft bin ich, so scheint es, weniger sattelfest als angenommen. Hier hat Houellebecq seinen Roman für französische Leser sicher mit zusätzlichem Spaß, aber auch Provokationspotential aufgeladen, die mir verborgen bleiben.
So oder so ist die Analyse der Winkelzüge, der doppelten Finten und Volten, der kalkulierten Berechnungen der verschiedenen politischen Lager, so wie sie Houllebecq eine seiner Figuren, einen mittlerweile zwangspensionierten Geheimdienstmann, schildern läßt, sehr beeindruckend und entlarvend, ebenso die Charakterisierung der Presse- und TV-Landschaft. Am Ende aller Rochaden und Salti ist der Kandidat der Bruderschaft der Muslime einfach »alternativlos«, hah!
Mohammed Ben Abbes, der neue Präsident der Republik, bezeichnet sich selbst als moderaten Muslim, verdammt die Salafisten, bezeichnet Terroristen als Dummköpfe, hat den absolvierten Eliteschulen- und laufbahnen Frankreichs viel zu verdanken und beabsichtigt deshalb, daran nichts zu ändern. Ben Abbes will Europa, aber ausgedehnt und erweitert um das nördliche Afrika und die Türkei, sieht die Gemeinschaft eher in der Tradition des Römischen Reiches und sich selbst als eine Art Kaiser Augustus (Fernziel: erster Präsident Europas). Die Mystik der Buchreligionen ist ihm heilig (die christliche freilich mehr als die jüdische), seine Wertewurzeln liegen im katholischen Mittelalter, sein Familienbild und seine Ideale sind konservativ-national und kompatibel mit denen der etablierten Parteien, egal ob rechts oder links. Dieser muslimische Präsident ist wirklich eine Provokation, weil er als Idealfigur, als Idol gezeichnet wird, als sympathisch und glaubhaft. Bis zur Mitte des Buches wirkt er vertretbar, akzeptabel und tolerabel. Ist das der versteckte literarische Sprengstoff. Bin gespannt, wie sich das entwickelt …
Unsymphatisch und liebenswert; Houellebecq hat wieder einmal eine großartige Hauptfigur entworfen. François, der Icherzähler, ist für sein Alter von 44 Jahren wirklich ein kaputter Typ: »Migräne, Hautkrankheiten, Zahnschmerzen, Hämoridhen«, dazu ein nicht geringer Alkoholkonsum und eine Ernährung, die nahezu vollständig auf Mikrowellen-Fertigmahlzeiten aufbaut. Aber seine Libido funktioniert. Wilder, hemmungsloser Sex mit (s)einer 24 Jahre jüngeren Geliebten (eine Studentin) wird mehrfach geschildert, im Grenzbereich zwischen lustvoll-erotisch und geschmacklos-voyeuristisch.
Zynismus, Ironie, Sarkasmus, Zotigkeit: all das kann Houellebecq vorgeworfen werden. Aber, Verunglimpfung der Muslime, gar des Islam? Bislang habe ich das nicht entdeckt. Aber vielleicht liegt meine Verunglimpfungsschwelle höher als die Anderer (Andersgläubiger). Auch hier bin ich gespannt auf die weitere Entwicklung.
Ein Zitat noch, eine, wie ich finde, treffende und (in Ansätzen) boshafte, sexistische und auch amüsante Gegenüberstellung. Die Hauptfigur sinniert im Kaufhaus, welche Abteilungen im islamischen Staat verschwinden und welche bestehen bleiben, bei den Dessous fällt das Urteil schnell und klar, sie bleiben:
Während die reichen Araberinnen tagsüber die undurchdringliche schwarze Burka trugen, verwandelten sie sich abends in schillernde Paradiesvögel. Mieder, transparente BHs, Strings mit bunter Spitze und Schmucksteinen, also gena das Gegenteil der westlichen Frauen, die sich tagsüber sexy und elegant kleideten, weil ihr sozialer Status auf dem Spiel stand, abends aber zusammensanken, in unförmige Freizeitklamotten stiegen und beim Gedanken an Verführungsspielchen nur müde abwinkten.
Genauso abseitig auch die auf Huysmans gestütze und allen Männern angeblich innewohnende Träumerei von der »Dirne, die zur Kochtopffrau mutiert«. Nun, ja. Houellebecq eben, das muss frau/man schon ertragen.
In benachbarten Revieren gewildert
Nicht nur ich, auch andere lesen derzeit Houellebecq oder haben ihn gelesen. Ein kurzer Blick über den Tellerrand.
Jacqueline hat auf ihrem Blog masuko13 einen Artikel zum Roman veröffentlicht, in dem sie »all den großartigen Besprechungen im Feuilleton noch mein kleines Statement hinzuzufügen« möchte, und sie hat darin versucht, ihr Fokusrädchen auf »unscharf« zu drehen.
Ich stelle mir vor, ich hielte diesen Roman in der Hand ohne Autor und Titel. Ich wäre dann frei von jeglicher Erwartung und würde ihn ohne Vorurteil, ohne Voreingenommenheit lesen. Natürlich hätte ich bisher auch keine einzige Rezension gelesen, keine andere Meinung gehört. Was würde ich sehen?
Und am Ende einer knappen, kommentierenden Inhaltsangabe steht eine weitere Frage.
Ist es deshalb beängstigend? Irgendwie nicht, denn immer sage ich mir, dass es eine Vision, ein Gedankenexperiment, eine ziemlich verrückte Fiktion ist. Und dann entdecke ich mit dem Blick von Francois Chancen in dieser neuen Welt. Chancen, das alte Europa zu retten. Alte Traditionen bekämen wieder eine Bedeutung.
Abschließend ein knappes und bestimmtes Fazit: »Danke, Michel für diesen Roman. Und danke an den DuMont Verlag für seine Veröffentlichung.« Hier der Link zum vollständigen Artikel: masuko13 – Michel Houellebecq. Unterwerfung
Einen zweiten Zwischenbericht zur Lektüre hat auch Brasch & Buch abgegeben. Er lese entspannt eine Geschichte mit einem gelungenen Spannungsbogen, schreibt Thomas, und der Roman erfülle bislang eine Menge an zu erwartenden sarkastischen Klischees über ein saturiertes, bürgerlich-akademisches Milieu in den westeuropäischen Metropolen. Hier der Link zum vollständigen Artikel: brasch & buch – Michel Houellebecq Unterwerfung: die ersten hundert Seiten.
Tobias vermeldet aus seinem buchrevier, dass Houellebecq sein Literarischer Held (3) sei. Unterwerfung jedoch sei noch nicht aufgeschlagen.
Genug für den Moment, die Halbzeitpause ist vorüber. Wieder raus aufs Spielfeld!