Weiter als der Himmel – Die Leere im Universum und im Leben
Pippa Goldschmidt ist Astronomin und hat einen Roman über Astrophysik geschrieben. Der handelt von der Rotverschiebung, dem Urknall, interaktiven Galaxien, der dunklen Materie und Leerstellen im Universum. Aber in Weiter als der Himmel entpuppen sich nicht die Weite und Unendlichkeit des Weltalls als die größten Rätsel: viel schwerer zu entschlüsseln nämlich sind die Liebe, die Wahrheit und das Glück in unseren Leben. Ein faszinierende Studie über Raum und Zeit da draussen und da drinnen.
Unendliche Leere – im All und im Leben
Jeanette ist Astrophysikern in Edinburgh und steht als Postdoktorantin am Fuß der wissenschaftlichen Karriereleiter. Viel Hoffnung auf einen steilen Aufstieg hat sie allerdings nicht. Sie schlägt sich in ihren Vorlesungen mit Studenten herum, muss Anfeindungen, der Kollegen abwehren, sich dem Konkurrenzdruck entgegenstemmen und unentwegt neue »Papers« produzieren, denn nur wer publiziert, wird wahr- und ernstgenommen. Sie hat es schwer in ihrem Fachgebiet, als eine der wenigen Frauen in einer Männerdomäne. All das ändert sich schlagartig, als sie eine Entdeckung macht, die scheinbar die Relativitätstheorie und das Konsensmodell des Urknalls aus den Angeln hebt.
Aber auch ihr privates Leben gerät aus den Fugen, denn Jeanette kämpft nicht nur um berufliche Anerkennung. Sie ringt auch mit sich selbst und einem lange zurückliegendem Trauma ihrer Kindheit. Der plötzliche und rätselhafte Tod ihrer Schwester Kate, einer Schwimmerin mit Ambitionen auf die Olympischen Spiele, hockt wie ein Schwarzes Loch im Kern ihrer Familie und verschlingt gnadenlos alle Gefühle, alle Liebe und Zuneigung. Wie tote Planeten kreisen Vater und Mutter schweigend umeinander und verweigern Jeanette die Wahrheit, wie und warum Kate ertrunken ist.
Obendrein überschattet die abwesende Schwester Jeanettes Suche nach Liebe und Geborgenheit. Dass sie lesbisch ist, verschweigt sie ihren Eltern, die Beziehung mit der extrovertierten Künstlerin Paula genießt sie nur im Geheimen. Die Erfüllung, die sie (auch in wildem, hemmungslosen Sex) zunächst findet, geht über in ein wortloses Nebeneinander. Die Liebe scheitert, das Glück stirbt unter Schmerzen. Alles um Jeanette herum scheint auseinanderzudriften, wie die Galaxien im Raum. Was bleibt sind Voids, leere Areale ohne Licht und Materie. Diese Leerstellen im Universum wählt Jeanette konsequent und folgerichtig als ihr neues Forschungsgebiet. Sie will endlich verstehen, warum etwas nicht da ist, im Weltall, in ihrer Familie und in ihr selbst.
Galaktische Metaphern
Pippa Goldschmidt trifft in Weiter als der Himmel einen sachlichen und distanzierten Erzählton, entwickelt dabei aber eine magische Anziehung. Ganz selbstverständlich schweben Metaphern groß wie Galaxien durch den Text. Das leere, weite Universum spiegelt das Innere der Protagonistin und gleichzeitig wird das Seelenleben Jeanettes zur großen Himmelsprojektion. Wimpernschläge dehnen sich zu Lichtjahren und kleine Seelenkrümel blähen sich auf zu kosmischer Grenzenlosigkeit. Zu keiner Zeit wird die Erzählung dabei kitschig oder werden die Figuren unglaubwürdig. Mitunter verläßt Goldschmidt das Terrain der genauen Charakterstudie und würzt ihren Roman mit einer kräftigen Portion Ironie und Humor. Vor allem die Schilderung des Arbeitsalltags an der Sternwarte und die Charakterisierung der Kollegen Jeanettes an der Astronomischen Fakultät haben das Zeug zur veritablen Wissenschaftssatire. Übersetzt hat den Roman Zoë Beck, Schriftstellerin und Verlegerin bei CulturBooks. Sie kennt Pippa Goldschmidt seit mehreren Jahren, hat schon bei den ersten literarischen Gehversuchen das große Talent der Astronomin bewundert. Weiter als der Himmel nach Deutschland zu bringen und zu übersetzen, sei ihr Herzenswunsch und innerstes Anliegen gewesen, gesteht Zoë Beck, und der Weidle Verlag habe ihr glücklicherweise sofort die Tür für dieses Projekt weit geöffnet.
»Ich wollte ein Buch schreiben über das Gefühl, Astronomin zu sein«, sagt Pippa Goldschmidt, »mich interessieren nicht die wissenschaftlichen Erkenntnisse, sondern die Menschen dahinter. Wie arbeiten und denken sie. Mir geht es nicht um das was, sondern das wie. Die großen physikalischen Entdeckungen beeinflussen das Leben und die Gefühle der Wissenschaftler, und vice versa können die privaten Lebenssituationen und -konstellationen, die Gefühle, das Seelenleben der Forscher entscheidend dafür sein, ob und wie große Entdeckungen gemacht und wie sie gesehen werden.« Zu unser aller Vergnügen ist Goldschmidts Plan aufgegangen. Denn während der Leser verfolgt, wie Jeanette ihr irdisches Leben aus dem Universum zu erklären versucht, und dazu den Himmel auf die Erde holt, lernt er viel über Astronomie, aber noch viel mehr über die Astronomen, über Jeanette und auch über sich selbst. Weiter als der Himmel ist ein Glücksfall der Literatur, ein großer Roman über die Leerstellen im Universum und in unseren Leben.
Aus dem Englischen von Zoë Beck
Broschur, fadengeheftet, 283 Seiten
Bonn: Weidle Verlag 2015
Mehr Informationen und eine Leseprobe auf der Webseite des Verlages
Pippa Goldschmidts Debüt ist auf ganzer Linie überzeugend und weckt große Leselust auf mehr. Angeblich arbeitet sie derzeit an einem neuen Roman; es geht um Schrödingers Katze und Quantenphysik. Wer nicht solange warten mag , greife zu The Need For A Better Regulation Of Outer Space (FreightBooks, Glasgow), das sind wunderbare Kurzgeschichten und fiktionalisierte Miniaturen über Wisenschaftler, ihre großen Entdeckungen und ihr Leben.
Link: masuko13 auf We read indie zu Weiter als der Himmel.