Wir können es besser! – Können wir?
Nennt es Kommentar, Schnellschuss oder unsortierte Notizen. Lest diesen Text oder auch nicht. Regt Euch auf oder ab. Mir jedenfalls waren die folgenden Zeilen so wichtig, dass sie jetzt hier stehen. Sie sind Reaktion auf (einige) jüngst geführte Debatten, engagierten Artikeln auf gern gelesenen Blogs und ein #PubnPub gestern in Berlin.
In Harmoniesoße ertrinken oder: Kein Streit nirgends
Die booknerds haben sich gestern in die Debatte, den Streit, die Diskussion (wie soll man’s bloß nennen, ohne gleich wieder abzuschrecken) über den Stand der Literaturkritik eingemischt: Generation „Bequem“ – oder: Empörungsintoleranz und Kuscheldiskussionen – oder: Ich bin ‚light‘ leid.
Was Chris Popp, weit über die jüngste Erregung um Youtuberin Sara Bow & Co. hinausgehend, einfordert, ist mehr Mut zur inhaltlichen Streitkultur. Valiumgaben, Mediationsucht, Harmoniesoße, „Welpenschutz“ und „Ach-lass-sie-doch-machen-tut-doch-keinem-weh“; das und vieles mehr breche jeder notwendigen und nötigen Auseinandersetzung binnen kürzester Zeit alle Spitzen ab. Thomas Brasch beispielsweise hat das in den Reaktionen auf sein Beiträge auf Brasch & Buch zu spüren bekommen (hier und hier): sachliche, inhaltlich und formal begründete Kritik wird (von Einigen, nicht von Allen) reflexartig diffamiert als persönlicher Angriff und Arroganz. Warum ist das so? Wer forciert das? Und: Warum?
Macht Euch angreifbar!
Koinzidenz! Just gestern Abend hat beim #PubnPub in Berlin Jörg Sundermeier (Verbrecher Verlag) auf dem heißen Stuhl (erneut) zum Streit mit offenem Visir herausgefordert. „Ich bin Autor und Verleger, hätte ich früher gesagt. Jetzt stelle ich mich vor als Erfinder der Sundermeierdebatte“. Schuld daran war Ende Januar sein Interview bei Buchmarkt-Online. Sundermeier hat seine Aussagen gestern relativiert, präzisiert, in Teilen auch als haltlosen Unsinn verworfen, allerdings die Kernthesen vehement verteidigt. Quotendruck, ökomomische Zwänge, das Postulat der wachsenden Rendite, Zeitnot, mediales Dauerfeuer aus allen Rohren, die Sucht nach Unterhaltung u.v.m. halten den gesamten Literaturbetrieb (Zeitungen, Fernsehen, Radio, Verlage, Autor_innen, Blogs, „name what yo want“) fest im Griff. Mit schlichten Schlagworten (fulminant, brilliant, furios), „Fakten für Blöde“, Sternchenempfehlungen sei der Literaturbetrieb auf dem besten Weg, bescheuert zu werden, so Sundermeier. Und er fügt hinzu, das sei nicht zuletzt durchaus auch ideologisch motiviert und gewollt. Noch knirsche es nur im Räderwerk, noch funktioniere das Betriebs-Getriebe und die Frankfurter Buchmesse werde das auch die kommenden 20 Jahre noch aushalten, aber dann…
Alle mogeln sich gerne (und erfolgreich) um die Kritik an der Literatur herum. Dabei gibt es sehr wohl allgemeingültige Kriterien die angelegt werden können, literarische und argumentative, historische und ästhetische. Man muss sich nur die Zeit nehmen, sie zu studieren und weiterzuentwickeln, die Texte genau zu lesen und dann auch ehrliche Standpunkte gegenüber der Literatur einnehmen. Das ist nicht leicht; denn wer Standpunkte vertritt, macht sich angreifbar. Aber erst aus Angriff und Verteidigung entsteht wieder Literaturkritik und aus Pose wieder Haltung.
Kleiner Exkurs I: Eine Musterlösung konnte und wollte Sundermeier nicht liefern. Es sei auch gar nicht nötig, ständig „Ross und Reiter zu nennen“. Nötig seien Plattformen des Austauschs, gedruckte und elektronische. Spontaner Vorschlag Sundermeiers fürs Web: ErnstBlochundGeorgLukaczhattennichtRechtaberwirmüssensiegenaulesenumdaszuverstehen.com
Kleiner Exkurs II: die Sundermann-Debatte wurde inzwischen (auch) zur Schütte-Debatte (siehe hier bei Perlentaucher: viele gute, aber auch viele unsinnige Positionen schwirren dort herum; aber sie schwirren und das ist gut so.) Weitere sehr lesens- und bedenkswerte Anregungen finden sich im Blog lesenmitlinks von Jan Drees (zum Beispiel hier und hier und hier).
Und jetzt? Viel Lärm um nichts?
Achtung! Um jedem Missverständnis vorzubeugen: auch dieser Blog (man vergleiche das, was ich hier schrieb, mit einigen meiner jüngeren Artikel und bemerke die Diskrepanz) ist Teil des, O-Ton Sundermeier, „gallopierenden Unsinns-System“, übrigens auch der Verbrecher Verlag und sein Chef. Wir alle sind Teil des Problems, aber auch Teil der Lösung. Radikal formuliert lautet die: Hamsterrad anhalten, Schnellschussphilosophie über Bord werfen, sich auf die Kritierien besinnen, genau lesen und noch genauer schreiben. Hier schließt sich der Kreis (das Ei?) zum Anfang. Offener Diskurs mit offenem Visir, ohne Hass und Diffamierung, aber auch ohne Harmoniesoße und Kuschelzone, wäre ein Anfang. Ein unerfüllbarer Wunsch? Nein, ich weigere mich, die Hoffnung aufzugeben! Die Literatur (vergangene und gegenwärtige) ist es wert, dass mit und über sie mehr gestritten wird.