»Wir werden nicht mehr Goi und Jüdin sein« – Israelische und deutsche Autoren über das andere Land
Norbert Kron und Amichai Shalev spielen Fußball und beide haben einen Stammplatz in den Nationalmannschaften iher Heimatländer. Kron kickt für Deutschland, Shalev für Israel. Sie gehören zu den Nationalmannschaften der Autoren. Wenn sie ehrlich sind, geben sie zu, vielleicht doch besser schreiben zu können als Fußball zu spielen. Aber beides zusammen sei unschlagbar.

Berlin, Mai 2008
Das wird hier berichtet, weil Norbert Kron und Amichai Shalev sich 2008 bei einem Freundschaftsspiel zwischen Israel und Deutschland in Berlin und dem Rückspiel wenig später in Tel Aviv kennengelernt haben. Beide Spiele endeten jeweils mit einem Heimsieg und hatten mit anschließenden Lesungen und Diskussionen gewissermaßen eine »dritte Halbzeit«. Auf dem Platz und daneben entstanden Kontakte und Freundschaften. Es gab Befangenheiten, ja, das geben beide zu, und Scheu. Aber die Neugier auf des Leben der anderen, der Wunsch, mehr über ihre Ansichten und Gefühle zu erfahren und über ihren Alltag, waren stärker. Es schien ein Privileg der sogenannten »dritten Generation« zu sein. Vor 50 Jahren wäre das anders gewesen. Kaum ein Israeli wäre auf die Idee gekommen, nach Deutschland zu reisen, in vielen Familien waren deutsche Produkte verboten, in Deutschland lebende Juden mussten sich gegenüber ihren Verwandten in Israel stets rechtfertigen und stießen nicht selten auf Unverständnis. Die Shoah und ihr Schatten waren allgegenwärtig. Das zarte Pflänzchen Annäherung fand in beiden Ländern nur spärliche Erdkrumen und fahles Licht, um zu wurzeln und zu sprießen. Just zu dieser Zeit nahmen die Regierungen von Israel und Deutschland diplomatische Beziehungen auf. Am 12. Mai 1962 war das. Drei Jahre vor der Geburt von Norbert Kron und 11 Jahre vor der von Amichai Shalev.
Kron und Shalev wollten mehr erfahren über den Stand der Beziehungen zwischen Deutschland und Israel. Sie fragten andere Autorinnen und Autoren nach ihrer »Sicht auf die Dinge« heute, baten sie, über das jeweils andere Land nachzudenken und zu schreiben. Fällt es der dritten Generation 70 Jahre nach Shoah und Weltkrieg leichter miteinander zu sprechen? Sind wir auf dem Weg zur vielbeschworenen Normalität zwischen Menschen aus Israel und Deutschland? 19 mögliche Antworten sind nachzulesen in der Anthologie Wir vergessen nicht, wir gehen tanzen.

Reden, schweigen
Eine Rückkehr zu völliger Normalität kann es nicht geben. Wie auch? Moritz Rinke, auch er ein Nationalspieler, bringt in seiner Tagebuchcollage das gegenwärtige Dilemma auf den Punkt. Während er mit türkischen Freunden, Fußballern und Autoren, am Rande der Gezi-Park-Unruhen über Menschenrechtsverletzungen der Regierung, über Unterdrückung politischer Andersdenkender, die Diskriminierung der Kurden streiten und diskutieren kann, gelingt ihm Ähnliches in Israel kaum. Rinke, der sich auf beiden Seiten umgesehen hat, in Israel und in Palästina, gesteht resigniert, unfähig zu sein, mit Worten vermitteln zu können. Vor 50 Jahren noch machte einzig das »Verbrechen der Väter und Großväter« sprachlos, nun überschatten zusätzlich die Differenzen über die Politik der israelischen Regierung den Dialog. Das Große herrscht über das Kleine, die Geschichte domoniert das Private. Menschen begegnen sich im Sport und im Alltag, reden über vieles, aber schweigen auch und verschweigen.
Stumm bleiben oder Worte finden; um diesen Nukleus drehen sich mehr als eine der hier versammelten Texte. So erzählt Sarah Stricker eine amüsante Liebesgeschichte im Woody-Allen-Stil. Der junge Mann aus Deutschland bleibt im Land seiner israelischen Geliebten zunächst wortkarg und zurückgezogen. Er möchte immer nur über sein Schuldigkeit sprechen, selbst bei Dingen Verantwortung übernehmen, die mit Deutschen nichts zu tun haben. Als er merkt, wie locker und mit wieviel Humor die Freundin mit allem umgeht, schlägt er ins andere Extrem. Der Holocaust habe doch auch sein gutes gehabt, verrät er des Nachts der Frau, denn sonst wäre er nicht nach Israel gekommen und hätte sie nicht kennengelernt. Die Deutschen haben ein Problem: sie scheinen nicht fähig zu sein, das richtige Mittelmaß zu finden. Doch gerade die Mitte, so Stricker, sei nötig im diffizilen Gleichgewicht zwischen Deutschen und Israelis.
Die einzelnen Beiträge dieser Anthologie schlagen eine Brücke von persönlichen Annäherungen im Hier und Jetzt (wie in der Geschichte von Sarah Stricker) über nachdenkliche, autobiografische oder mit dem Gestus des Autobiografischen versehene Betrachtungen (wie die von Moritz Rinke oder die berührende Familien- und Selbstbefragung von Eva Menasse) bis hin Texten, die mit dem Blick in eine mögliche Zukunft die fiktionalen Mittel der Literatur ausschöpfen, dabei mitunter phantastische, ja, groteske Züge annehmen.
Nicht alle Erzählungen, Essays und Reportagen bewegen sich auf qualitativ gleich hohem Niveau. Aber alle bedienen sich einer unprätentiösen Sicht, verstecken sich nicht hinter Floskeln und vermeiden plakative deutsch-jüdische Klischees und Perspektiven. Sie regen an, das Bild der deutsch-israelischen Befindlichkeit neu auszurichten und und den eigenen Blick nachzuschärfen »in einer gemeinsamen Gegenwart, in der Vergangenheit immer präsent ist, ohne das Nachdenken über die gemeinsame Zukunft zu blockieren«, wie es Frank Walter Steinmeier in seinem Grußwort zum Buch ausdrückt. Seine Worte mögen staatsmännisch-diplomatisch und gestelzt klingen, wahr sind sie trotzdem und wert, mit Leben gefüllt zu werden.
Nicht vergessen, feiern gehen
Tausende junge Israelis haben Berlin zu ihrer zweiten Heimatstadt gemacht; Tanzen und Feiern ist für sie Teil ihres Alltags. Genauso selbstverständlich feiern Tausende Deutsche alljährlich in Tel Aviv. Auch Norbert Kron, zunächst mit großer Hemmung, wie er gesteht:
Tel Aviv, die viel gepriesene Partystadt. Als ich das erste Mal nach Israel fuhr, hatte ich beim Mittanzen ein bisschen weiche Knie. Wo ich auch hinkam, hatte ich das Gefühl, über meinem Kopf schwebt ein riesiges Schild, auf dem steht: Achtung, Deutscher! Damals habe ich gedacht, jeder erkennt in mir sofort den Abkömmling einer Familie, in der es auch Nazis gab. Wie viele Deutsche hatte ich noch nie einen Israeli oder Juden im Alltagsleben kennengelernt. Und in den Medien geht es beim Thema Israel fast immer um den Holocaust. Oder um den Nahostkonflikt und die Frage, wie wir Deutschen uns dazu stellen sollen. Und dann habe ich in Israel immer mehr Menschen getroffen und festgestellt: Das Verhältnis ist in Wirklichkeit viel entspannter.
Die Popkultur verbindet die Menschen in Israel und Deutschland inzwischen mehr als die Geschichte der Shoah. Hier geht es nicht um »entweder oder«, nicht um »erst dies, dann das«. Wir vergessen nicht, wir gehen tanzen fordert auf zu simultanem Handeln, dazu, das eine zu tun ohne das jeweils andere zu lassen. Nur in dieser Gleichzeitigkeit liegt der Schlüssel zum selbstverständlichen Umgang. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg, wie die Geschichten zeigen. Aber sie belegen auch, dass der steinige Pfad längst erfolgreich beschritten und freigeräumt wird. Eine neue Lässigkeit hält Einzug in die private, menschliche Begegnung; trotz oder vielleicht gerade wegen staats- und regierungspolitischer Meinungsverschiedenheit. Besonders auffällig ist, dass gerade viele der israelischen Autorinnen und Autoren die Schrecken der Shoah nicht mehr als einen zertrennenden Schnitt, sondern als verbindende Klammer betrachten. Den Mord an den Juden Europas sehen sie nicht mehr als einen nur auf Deutsche und Israelis eingeschränkten Teil der Geschichte, sondern als Teil der universellen Geschichte, die alle Menschen auf der Welt angeht. Darin ruht eine historische Chance für die »dritte Generation«; sie kann ohne zu vergessen gleichzeitig feiern und leben. Davon geben die versammelten Texte Auskunft.
Weil dieses Buch zeitgleich in einer deutschen und einer hebräischen Ausgabe erscheint, in einem israelischen und einem deutschen Verlag, ist die Voraussetzung geschaffen für mehr als nur einen literarischen Dialog zwischen beiden Ländern. Da ist es auch zu verschmerzen, dass nicht alle versammelten Geschichten literarisch gleich überzeugen können und der Umschlag vielleicht ein wenig zu kitischig-bonbonfarben geraten ist. Wichtig und lesenswert ist das Bändchen auf seine Art allemal.

Israelische und deutsche Autoren schreiben über das andere Land
Herausg. von Norbert Kron und Amichai Shalev
Aus dem Hebräischen von Barbara Linner
Gebunden, 320 Seiten
Frankfurt/M.: S. Fischer Verlag 2015

P.S.: Ich kenne Norbert Kron persönlich. Er ist ein von mir sehr geschätzter Kollege beim rbb-Fernsehen. Deshalb ist diese Buchempfehlung mit besonderer Sympathie verfasst, aber keine Gefälligkeit. Das möchte ich hier ausdrücklich betonen.
Mehr Informationen über die Autorennationalmannschaft Deutschlands gibt es unter autonama.de und bei der DFB-Kulturstiftung.
9. September 2015 @ 16:07
Lieber Jochen,
nun habe ich das Buch gelesen und wollte Dir gerne eine Rückmeldung geben.
Den Ansatz des Buches bzw. des Projektes, das hab ich ja schon geschrieben, finde ich hochinteressant – und ist bisher literarisch von dieser 3. Generation noch nicht oft bearbeitet worden. Ich kenne zumindest nicht viele Beispiele.
Die Texte selbst sind dann von, Du deutest das ja an, ausgesprochen unterschiedlicher Qualität.
Da, wo ich sie gelungen finde, waren für mich neue Autoren zu entdecken, denen ich nun auch über dieses Buch hinaus mal ein bisschen folgen werde.
An erster Stelle nenne ich da Sarah Stricker und Liat Elanyan, die mit zwei komplett unterschiedlichen Texten den Anfang machen.
Das sind in meinen Augen sehr gute Texte, die zeigen, dass das Bemühen oder besser gesagt das Wollen von Normalität doch immer wieder an innere Grenzen stösst, die offensichtlich weitaus mehr von der Seite der Täter (ich weiss, das ist schräg, aber mir ist grade nicht klar, wie ich es anders deutlich ausdrücken kann) herrühren. Die jungen Israelis, das wird auch in anderen Texten sehr deutlich, sind da auf erste Sicht tatsächlich deutlich lässiger.
Dann gibt es einige autobiographische Texte, hier hat mich vor allem der von Eva Menasse angeprochen, , der auf sehr berührende Weise ihr Verhältnis als in der österreichischen Diaspora lebende Jüdin zu Israel als Staat und Gesellschaft beschreibt.
Dann gibt es einen Text von Yair Asulin, in dem im Grunde anhand von verschiedener Ereignisse im Tag- und Nachtleben Berlins doch die Unterschiede zwischen den ‘Parteien’ herausgearbeitet werden, und zwar entlarvender Weise in Sätzen, die man zusammenfassen könnte, mit der Aussage ‘Ihr seid wie Wir’ – und damit den Unterschied von Ihr und Wir erst recht heraus stellt (ein Türsteher hält den jüdischen Autor wg. seines Aussehens für einen Araber. Nachdem das Missverständnis aufgeklärt ist, fällt dann dieser Satz “Ihr wisst ja, sie sind sehr viel aggressiver als ich und ihr.” Ein sehr eindrücklicher, wenn auch nicht besonders literarischer Text, eher ein Bericht.
Oft wird sich aber auch in den Texten einfach mit sich selber beschäftigt und ich konnte, ohne das zu bewerten, keinerlei Verbindung zum Kontext des Buches feststellen.
Insgesamt finde ich, das Buch ist lesenswert, aber, und das ist der eine Punkt, der mich ein wenig enttäuscht hat, verfehlt in zu vielen Texten einfach das Thema. Da hatte ich das Gefühl, das Buch hatte kein inhaltliches Lektorat.
Zum Anderen: Ich lese aus diesem Buch einfach nicht heraus, dass sich das Verhältnis wirklich ‘normalisiert’ hat. Doch natürlich, die Vorbehalte sind in der jüngeren Generation wahrscheinlich geringer geworden, aber sie sind noch da, sie zeigen sich anders, unterschwelliger (s. Beispieil oben).
Es ist für beide Seiten ein schwieriges Verhältnis, dass durch den Israel-Palästinenser-Konflikt nicht einfacher wird. Das ist einfach so – eröffnet aber in der 3. Generation auf jeden Fall die Chance, das Verhältnis immer neu zu diskutieren und offenen Geistes zu überdenken. Das wäre jedenfalls schon eine Menge.
Liebe Grüsse
Kai
23. Juli 2015 @ 12:28
Lieber Jochen,
das Buch wäre wohl an mir vorbei gegangen – und selbst wenn ich es in einer Buchhandlung gesehen hätte, bei dem Cover wäre ich gleich geflüchtet. Wie man sich täuschen kann. Das Thema Holocaust, Israel und Deutschland, wie miteinander umgehen beschäftigt mich seit den ersten Auseinandersetzungen mit meinen Eltern in den frühen Siebzigern, durch mein Studium hindurch und bis heute. Und da finde ich nun diese Perspektive der dritten Generation hochinteressant. Ich habe es gerade bestellt und bin gespannt.
Danke für diesen Post!
Liebe Grüsse
Kai
P.S.: ach ja, wenn ich das noch sagen darf: Geradezu amüsiert habe ich mich über Dein pc-artiges P.S. – und natürlich sofort an die wunderbare Debatte gedacht, die derzeit darüber geführt wird, ob man Übersetzer erwähnen muss, ob man schreiben muss, dass man das besprochene Buch geklaut, gekauft oder verlagsseitig geschunken gekrochen bekommen hat, wer überhaupt was und wenn ja wie und wo auf welchem Niveau schreiben oder vertuben darf.
Ich darf Dir sagen, dass ich Dich bzw. Deine Beiträge bisher für so seriös und jedenfalls lesenswert halte, dass es einer solchen pc-Anmerkung nicht bedarf. Andersherum, wenn mir was ‘gekauft’ vorkommt, hilft auch so eine Anmerkung nicht. Hoch lebe die eigene Meinungsbildung!
24. Juli 2015 @ 07:21
Lieber Kai,
danke für Dein nettes Feedback auf den Artikel (und das beiläufige, aber große Lob im Schlußabsatz). Vielleicht meldest Du Dich nach Deiner Lektüre der Anthologie mit eigenen Anmerkungen und Beobachtungen kurz zurück, wenn Du magst. Ich fände das sehr interessant.
Was den »p.c.-mäßigen« Nachtrag anbelangt; ja, den hätte ich natürlich genausogut weglassen können. Egal, jetzt steht er da, zu Deinem und anderer Amusement.
lg_jochen