Irre! – Georg Büchner Preis 2015 geht an Rainald Goetz
Endlich! – Bin ich verleitet auszurufen. Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung verleiht dem Romanautor, Essayisten und Dramatiker Rainald Goetz den Georg Büchner Preis 2015. Aus der Begründung der Jury:
Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung zeichnet einen Autor aus, der sich mit einzigartiger Intensität zum Chronisten der Gegenwart und ihrer Kultur gemacht hat, als teilnehmender, denkender und moralisch urteilender Beobachter, der immer wieder neue Formen und Medien erprobt hat: Erzählung, Roman, Drama, Blog und Text-Bild-Collage. Rainald Goetz hat die deutsche Gegenwart der letzten dreißig Jahre beschrieben, zur Anschauung und zu Wort kommen lassen, er hat sie gefeiert und verdammt und immer wieder auch mit den Mitteln der Theorie analysiert. Hinter seiner nervösen, gespannten Erfahrungsbereitschaft stehen eine weite Bildung und ein empfindliches historisches Bewusstsein, die seiner Sprache eine Balance von leidenschaftlicher Expressivität, beobachtender Kühle und satirischer Deutlichkeit ermöglichen.
(Hier der Link zur vollständigen Pressemitteilung der Akademie.)
Rainald Goetz wurde am 24. Mai 1954 in München geboren. Er studierte Geschichte und Medizin und schloss beide Studiengänge mit einer Promotion ab. Den zunächst eingeschlagenen Berufsweg als Arzt verläßt er mit Anfang 30, um sich ausschließlich der Literatur zu widmen. Schlagartig berühmt wird er mit einem legendären Auftritt beim Bachmannpreis 1983, bei dem er sich während der Lesung die Stirn aufritzt und den Vortrag seines Textes »In Subito« blutüberströmt beendet. (Link zum Video der Lesung und der Jurydiskussion.) Marcel Reich-Ranicki ist sehr angetan und bescheinigt Goetz literarische Kraft und Wucht. Goetz‘ erster Roman Irre spielt in der Psychatrie und handelt unter anderem vom Illusionsverlust eines Arztes und der Machtlosigkeit der Medizin gegenüber dem Wahnsinn der Welt. In den 90er Jahren widmet sich Goetz in einigen vieldiskutierten Texten der Techno-Szene und der DJ-Kultur. Es folgt das beachtete Internettagebuch Abfall für alle, eine erste Auseinandersetzung mit dem neuen Medium und der Schritt auf das Experimentierfeld Literatur im Netz. Konsequent erprobt Goetz die Verbindung von Blog, Roman, und Sachtext, schreibt nach und nach seine Version einer Gegenwartsgeschichte in den 90er und Nullerjahren. Parallel zu den Prosatetxten und Blogs veröffentlicht Goetz auch zahlreiche Dramen und Hörspiele. Mit dem Roman Johann Holtrop, in dem er Aufstieg und Fall eines Managers thematisiert, meldet sich Goetz 2012 nach einigen ruhigeren Jahren erfolgreich in der Manege des bundesdeutschen Literaturzirkus zurück.
Irre und ich
Wie vielen andere habe auch ich Rainald Goetz erstmals durch seine Bachmannpreisperformance bewußt wahrgenommen. 1983 war ich Student und der Bachmannpreis (»Das ist Germanisten-Porno.« – Zitat Nora Gomringer, Preisträgerin 2015) war Pflichtprogramm (im TV, für Klagenfurt-Ausflüge fehlte das Geld). Der Roman Irre wurde bei Erscheinen sofort verschlungen. Das schnelle Tempo des Textes, die flappsige Sprache, die postsmoderne Form, die Collage-Technik und die aberwitzigen Volten der Handlung, wenn es denn wirklich eine Handlung gibt, machten das Buch zum Pageturner für Intellektuelle und Avantgardisten. Hier schwebte kein literarischer Schöngeist durchs Land, sondern ein Berserker, der die Hochkultur attackierte und zertrümmerte, mit der Alltagskultur vermischte und daraus seinen ganz eigenen Zement anrührte, um damit (vielleicht) die Wunden der Gesellschaft zu kitten. Schlicht gesagt: der Roman war direkt, hatte ungeheuer viel Wucht und schlug dem Leser mit voller Kraft in die Magengrube. Ein guter Freund machte das Buch einige Jahre später zum Thema seiner Magisterarbeit: Rainald Goetz’ Irre und der postmoderne Roman. Die zwangsläufige Relektüre resultierte in stundenlange Diskussionen über das Buch und den Stand der deutschsprachigen Literatur, wahlweise am Schreib- und/oder am Kneipentisch geführt. Und natürlich wurde das Motto auf dem Rückumschlag des Suhrkampbändchens im studentischen Umfeld zum geflügelten Wort: »Don’t cry – Work.« Seitdem habe ich viele weitere Texte von Rainald Goetz gelesen, einige auch ausgelassen, aber Irre ist und bleibt für mich nach wie ein großartiger Ausnahmetext.
Noch nicht gelesen? – Unbedingt nachholen!
Roman
Gebunden, 372 Seiten
Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008
(Bibliothek Suhrkamp Bd. 1428)
Aus tiefster Seele und voller Freude ein laut geschmettertes »Herzlichen Glückwunsch, Rainald Goetz! Den Büchnerpreis haben Sie mehr als verdient.«
Liste der bei Suhrkamp erhältlichen Titel von Rainald Goetz.
(Foto Rainald Goetz von Lesekreis / Wikimedia Commons)