Abheben und schweben mit Karen Köhlers Raketen
Halb erfroren standen wir auf der Brücke über den S-Bahn-Gleisen. Deine alte Angelausrüstung in den Händen. Jeder eine Angel. Der Himmel war längst wieder abgekühlt vom großen Geballer, da haben wir Raketen in leere Flaschen gesteckt und unsere Angelschnüre an den hölzernen Enden der Flugkörper befestigt. Commencing Countdown, engines on. Synchron hielten wir die Feuerzeuge an die Lunten. Rasch die Angeln in die Hände. Drei. Zwei. Eins. Fauchend sausten die Raketen, von Sehnen gebändigt, mühsam in den Himmel und explodierten über unseren Köpfen. Wir haben Raketen geangelt. Das war letztes Silvester.
(Aus: Karen Köhler, Wir haben Raketen geangelt. S. 132)
Karen Köhlers Raketen flitzen derzeit mit Überschall durch die Feuilletons und wuseln in Buch- und Literaturblogs herum. Die Kritik schlägt begeistert Purzelbäume ob des gelungenen literraischen Debüts. Auch lustauflesen.de ist hin und weg.
Das wichtigste deshalb gleich zu Beginn: UNBEDINGT LESEN!!
Für mich ist Wir haben Raketen geangelt wie eine kleine Box mit zehn erlesenen Pralinen. Edle Häppchen, deren Überzug zwischen den Zähnen knackt, wie in der bekannten Eiswerbung. Unter der Hülle versteckt ist eine cremige Füllung, mal zartbitter, mal vollmilchsüß; und dann ist da dieser harte Kern, in der Mitte versteckt, kleine Nüsse, herb bis gallig bitter. Und sind die erst zerbissen, entwickelt sich das volle Aroma, diese Mischung aus salzig-würzig und süß. Kaum ist eines dieser erlesenen Stückchen gegessen, verlangt der Gaumen nach mehr. Ruckzuck ist die kleine Box leer, aber die Naschsucht noch nicht befriedigt. An diesen kleinen herb-zart-süß-salzigen Pralinen kann man sich einfach nicht sattessen.
Die kleinen Erzählungen sind wie aus dem Lebensalltag herausgeknipste Ausschnitte, kurze Filmschnipsel, die doch die ganze Handlung, den großen Film erzählen. Die Figuren in diesen Erzählungen sind oft konfrontiert mit Sterben, Krankheit, Verlassensein oder fehlender Hoffnung und Zukunftsangst, aber ihre Haltung bleibt nach außen immer ruhig, ja fast gelassen. Bei allem Schmerz und Leid, diese Geschichten und ihre Figuren verlieren sich nicht in Hoffnungslosigkeit. Sie bleiben eigentümlich traurig und heiter zugleich, sie federn trotz großer Gewichte.
Federnd und leicht ist auch die Sprache, die Karen Köhler für ihre Erzählungen gefunden hat. Die Texte schweben, heben aber nicht ab (werden niemals übertrieben-blumig wie dieses kleine Loblied); Karen Köhler schreibt, als lausche sie einfach nur ihren Figuren hinterher und notiere mit, als beschränke sie sich auf Profanes, als lege sie wenig Wert auf das Literarische. Doch das ist gerade ihre große Kunst; literarisch zu sein ohne es zu wollen. Immer finden sich wundervolle Metaphern, Bilder und Vergleiche, stolpert der Leser über unerwartete und unerwartbare Worte und Sätze. Ein großartiger Stil, der sich zu keiner Zeit aufdrängt und in seiner Größe bescheiden bleibt. Bei Karen Köhler kommt literarische Kunst wie selbstverständlich daher und überrascht deshalb umso mehr.
Zur Sprache kommt die Form. Karen Köhler weiß ihre Erzählungen nuancenreich zu variieren; Roadmovie, Postkartenroman, Schnappschüsse im Familienalbum, Reisebericht … Jede Praline in der Box hat ihre Form, ist passend gefüllt, keine gleicht der anderen und alle sind gleich schmackhaft. Selten lese ich kürzere Erzählungen, kaum am Ende angelangt, gleich nochmal von vorn. Bei Karen Köhler und Wir haben Raketen geangelt habe ich es gemacht. Bei manchen der ergreifenden Geschichten sogar zwei- oder dreimal. Plot und Handlung sind dann bekannt, werden unwichtiger, aber Stimmung und Gefühl wachsen, bei jedem Durchgang mehr. Wundervoll.
Mit Karen Köhler hat der Chor der jungen deutschsprachigen Literatur eine neue kraftvolle Stimme hinzugewonnen, eine angenehm wohlklingende, die lange im Ohr bleibt, und der ich sehr, sehr gerne noch lange zuhören möchte.
Erzählungen
Gebunden, 240 Seiten
Mit umklappbarem Schutzumschlag und Lesebändchen
München: Hanser Verlag 2014
Ach, die Raketen und die kleinen Astronautinnen die hin und wieder auftauchen?! Wer darüber mehr wissen möchte, sollte die beiden Interviews mit Karen Köhler lesen auf Buzzaldrins Bücher und bei we read indie. Mit dem Gespräch auf we read indie endete übrigens auch eine schöne Blogtour der Raketen, deren Schmauchspuren zurückzuverfolgen sich ebenfalls lohnt.
P.S.: Verzeih, liebe Leserin, lieber Leser, diese vollmundige, vielleicht ein wenig kitschige, auf jeden Fall aber überschwängliche Besprechung; ich kann nicht anders. Wir haben Raketen geangelt ist jetzt mindestens ein Jahr lang mein Buchtipp schlechthin.