Schluckspecht – Vom Saufen und der Befreiung davon
Dieser Roman ist Rausch und Ernüchterung. Selten hat ein Autor das Saufen und das Leiden daran so eindringlich beschrieben wie Peter Wawerzinek. Schluckspecht ist ein Roman, der in einem Zug weggesoffen werden muss, ein Text wie ein gurgelnder Sprachstrudel, der den Leser mitreißt in die Abgründe des Saufens und ihn anschließend mitschleift auf dem beschwerlichen, mit Nacken- und Rückschlägen gesäumten Weg in Nüchternheit und hart antrainierte Normalität.
In Schluckspecht hat Peter Wawerzinek seine eigene, gut dreißigjährige Suchtbiographie verarbeitet, doch Schluckspecht ist kein autobiographischer Roman. Dieser banal Hinweis muss sein. Wie (fast) immer gilt auch hier, Autor und Erzähler sind nicht identisch. Schluckspecht ist sorgsam gebaute Literatur, ist ein komplexes Sprachkunstwerk und weit mehr als nur ein ehrlicher Erfahrungsbericht eines Alkoholikers. Der Roman ist prall, humorvoll, witzig, lebensfroh und gleichzeitig verzweifelt, aufbäumend und kämpferisch. Was er nicht ist, nicht einmal in Ansätzen: lamoryant und selbstverliebt.
In Schluckspecht breitet der (namenlose) Erzähler seine Suchtkarriere aus; vom ersten Schnuppern am Likörgläschen der Tante, über pubertäre Besäufnisse im Keller der Schulfreunde und programmierte Abstürze des wenig brauchbaren Hilfsarbeiters in Kneipen und daheim, bis hin zur Entziehung vom – und zur Erziehung zum Leben mit dem – Alkohol im ländlichen Thearpiezentrum.
Warum beeindruckt der Text so nachhaltig? Ganz einfach, seine Sprache, sein Rhythmus, sein Duktus sind einzigartig. Das beginnt mit dem Verzicht auf den distanzierenden Imperfekt. Wawerzinek läßt seinen Icherzähler im Präsens sprechen, das rückt ihn nah heran an den Leser, erhöht Identifikation und Empathie. Eine Lebensbeichte hervorgestoßen wie von einem Gegenüber am Küchentisch, ein Entwicklungsroman vorgetragen im Stakkato, emotional, direkt und berauschend. Schluckspecht ist ein Monolog, der alle Höhen und Tiefen des Trinkens evoziert, der den Leser mitreißt und teilhaben läßt. Alberne Bierseligkeit, ausgelassene Trinkgelage, der urwüchsig-komische Spaß am Saufen; das ist die eine Seite, der Absturz, das Delirium, der körperliche, geistige und soziale Zerfall die andere. Beides ist untrennbar verbunden und Wawerzinek findet dafür eine Sprache, seine Sprache, die beides gleichberechtigt darzustellen vermag. Eine Sprache, die Worten nachschmeckt, sie zerlegt, sich an Wortkernen und Reimen erfreut und, wie in der Musik, ihre Themen zu variieren versteht, in immer reicheren Klangfarben und Intonationen.
Schluckspecht reißt den Leser mit, weil ein quicklebendiger Erzählfaden abgespult wird, in dem Erlebtes, Erdachtes, Reflektiertes und Geträumtes untrennbar verknüpft und verknotet sind. Auch direkte Rede im klassichen Sinn kennt dieser Bekenntnismonolog nicht, nur knappe Satzstaffetten. Der Erzähler gibt auschließlich wieder, was bei ihm vom Reden der anderen hängengeblieben ist, wiederholt dies mitunter mehrfach, zerreißt chronologische Zusammenhänge jongliert mit Redewendungen, Allgemeinplätzen und vermeintlichen Lebensweisheiten. Heraus kommt dabei ein Text mit ganz eigener Dichte und Sogwirkung, über den der Leser immer schneller hinwegfliegt, unwillkürlich Tempo aufnimmt, so daß er sich mitunter bremsen, zum Innehalten und Verschnaufen zwingen muss.
Weil diese einzigartige Wirkung des Textes so schwer zu beschreiben ist, sei hier auf eine Leseprobe aus Schluckspecht auf der Webseite des Galiani Verlages verwiesen.
Verwoben mit der Säufergeschichte ist eine rührende Familiengeschichte. Der Icherzähler ist ein ungeliebtes Kind, das von seinen Eltern abgegeben bei Tante und Onkel aufwächst. Auch diesen beiden Figuren, die ihren ganz eigenen Kampf mit dem Alkohol ausfechten, setzt der Text ein Denkmal. Tante Luci und Onkelonkel gehören, neben dem Doktor im Therapiezentrum, zu den wenigen Menschen, die dem am Boden liegenden Säufer Halt geben und im Gegenzug von ihm gehalten werden. Denn auch die Tante braucht Hilfe in der Not, nachdem sie die Not des Neffen gelindert hat, und Onkelonkel ist über seinen Tod hinaus als liebenswert, schrullige Vaterfigur ein wichtiger Halt, ein aufmerksamer, wenn auch nur imaginärer, Gesprächspartner. So erzählt der Roman ganz nebenbei auch von tief verankerter und viel zu selten offen gelebter Menschlichkeit und Liebe; erzählt von dem, was wir vermissen, wenn es da ist, und das wir, in dem Augenblick, in dem es uns überwältigt, allzu gerne verdrängen und wegschieben.
Mich hat Schluckspecht bewegt, mitgenommen und angerührt. Seine Mischung aus bissigem Humor, unverwüstlichem Witz, tiefen Gefühlen und großer Ehrlichkeit macht diesen Roman zu einem Erlebnis.
P.S.: Freche Frage zum Schluss: Warum haben es eigentlich Peter Wawerzinek und sein Schluckspecht nicht auf die (eigentlich von mir nicht mehr beachtete) Longlist zum Buchpreis geschafft? Für mich überragt der Text manchen anderen, der sich dort tummelt.