Martin Kordić auf Literat(o)ur – Wie ich mir das Glück vorstelle
Wie ich mir das Glück vorstelle von Martin Kordić ist ein schmales Bändchen, das ich mir wahrscheinlich nicht aus eigenem Antrieb zugelegt hätte. Nun aber ist das kleine, feine Romandebüt auf einer Literatour bei mir vorbeigekommen, vom Blog literaturen auf den Weg geschickt. Ich bin sehr glücklich, es kennengelernt und gelesen zu haben. Insgesamt fünf Stationen soll/darf Martin Kordićs Buch absolvieren und, weitergereicht von Hand zu Hand, neue Leser finden. Inzwischen habe ich den Roman weitergeschickt auf seiner Reise. Was ich gelesen habe, hallt immer noch nach.
Im Buch erzählt Viktor seine Lebensgeschichte. Viktor ist von Geburt an anders, weil er an einer Rückenverkrümmung leidet und ein Korsett tragen muss, seine »Rückenspinne«, wie er es nennt. Als der Krieg ausbricht, wird Viktor von seiner Familie getrennt und kommt in ein Heim, das von Ordensschwestern geführt wird. Doch er kehrt in seine Heimatstadt zurück, schlägt sich zunächst alleine durch, dann zusammen mit einem Hund und schließlich mit einem einbeinigen Bettler. Zu den beiden gesellt sich später noch ein merkwürdiges, rothaariges Mädchen. Doch wie alles im Krieg hält auch dieses Bündnis nur auf Zeit, als eine Zweckgemeinschaft mit dem Ziel zu überleben. Die Freunde sind irgendwann fort und Viktor wieder allein.
Es schneit, ich bin allein. Ich trage den kleinen Plastikkoffer und gehe geradeaus. Es schneit so sehr, dass ich alles nur verschwommen sehen kann. Steine, Berge, Himmel. Ich weiß nicht wo ich bin. Einmal werde ich von einer Ziege überholt, die einen Strick hinter sich herschleift. Ich folge ihrer Spur, bis mir ein Huhn über den Weg läuft. Ich gehe dem Huhn hinterher, aber es ist auch schneller als ich. Ich bin allein.
Wie ich mir das Glück vorstelle ist keine einfache Kriegserzählung, kein Leidensbericht wie viele andere, denn Martin Kordić hat sich einiger wirkungsvoller Erzählkniffe bedient, die den Roman aus der Masse herausheben. Viktor, der Icherzähler, ist nicht nur körperlich versehrt. Weil er sich physisch anders bewegen, anders handeln und reagieren muss, arbeitet auch sein Kopf anders. Imagination und Realität mischen sich. Er findet nicht die richtigen Worte, die exakten Begriffe für den verworrenen und verwirrenden Konflikt, der ihn und seine Familie ins Elend stürzt und auseinanderreißt. Alles bleibt rätselhaft und verworren, nicht nur für Viktor. Im Krieg finden sich keine Worte, und doch will der Krieg beschrieben werden.
Viktor schreibt seine Geschichte in ein Heft; das Buch, das der Leser in Händen hält. Es ist ein unprätentiöser Bericht, knapp, mitunter zwanghaft sachlich im kindlichen Redefluss. Listen ersetzen von Zeit zu Zeit ausführliche Erklärungen. Alles ist im Präsens geschrieben, mit versteckten Fehlern im grammatischen und zeitlichen Gefüge. Viktor springt vor und zurück in seinem Lebensbericht, hadert immer wieder mit dem fehlenden Platz im Heft. Ihm gehen die Seiten aus, der Raum auf dem Papier; irgendwann stiehlt er in einem Kiosk eine Postkarte, um einige Zeilen zusätzlich unterbringen zu können.
Ich schreibe das Buch. Ich muss sehr sparsam sein mit den Seiten im Heft. (…) Diese Geschichte ist mein Leben. Diese Geschichte darf nicht länger sein als das Heft, in das ich reinschreibe. Ich schreibe sie für dich. Ich schreibe sie für einen, der sie liest. Jede Nacht schreibe ich ein paar Seiten. Oft streiche ich in der nächsten Nacht alles wieder durch und schreibe die Seiten neu zwischen die durchgestrichenen Zeilen.
Ort und Zeit der Handlung werden nicht konkretisiert, reale Namen oder Jahreszahlen nicht genannt. Doch verstreute Informationen legen nah, dass große Teile von Viktors Geschichte in Mostar spielen, um und nach 1993, denn die berühmte Brücke, von der auch Viktor gerne gesprungen wäre, wie die andern Jungen, ist bereits zerstört. Der Leser ist hier schon weit in den Text vorgedrungen und spät erst wird klar, dass hier der Bosnienkrieg beschrieben wird, gesehn durch Viktors Augen. Auch Viktors Alter bleibt vage; er ist kein kleines Kind mehr, aber auch noch nicht erwachsen genug, um selbst (trotz körperlicher Behinderung) als Soldat in den Krieg zu müssen.
Sein einbeiniger Freund ist ein Dschib; Viktor spricht nur von Dschib, Mudschis und Kreuzern; was Ethnien, Religionen und Volksgruppen trennt versteht er nicht, versteht eigentlich niemand mehr. Kein Wort über Ursachen oder Ziele des Konflikts. Es ist Krieg, es gibt Krieger und Nicht-Krieger, und es geht nur um das Überleben, das ist alles. Kordić umkurvt sprachlich äußerst geschickt alle Kitschfallen, in die er (theoretisch) hätte stürzen können. Er läßt seinen jugendlichen Erzähler die Ereignisse mit kindlicher Poesie, Humor und Fantasie verdichten. Das funktioniert perfekt, und nur gelegentlich keimt beim Leser der Verdacht auf, dass es ein so kluges und beredtes Kind eigentlich nicht geben kann. Doch schon drei Sätze weiter ist dieser Verdacht verflogen. Man ist wieder gefangen in Viktors irrationaler Welt, ist unterwegs mit ihm in der Stadt der Brücken und am Fluß.
Der Fluss ist ewig unterwegs, weil der hier unbedingt ankommen will. Wie auch ich hier ankomme. Der Fluss trägt alles Leben und alle Toten und alle Geschichten. Aus allen Ländern und aus allen Völkern. Alles versinkt hier. Im Meer.
Außer dem Icherzähler Viktor hat Martin Kordić im Buch noch eine weitere Erzählfigur etabliert. Die berichtet sehr neutral und sachlich vom „Letzten Tag“; fortlaufend schiebt sich diese Erzählung bruchstüchaft in Viktors Geschichte ein, setzt sich allmählich zusammen zum Bericht vom Ende. Denn am Ende kommt Viktor ans Meer; das Meer ist das Ende von allem, ist auch Viktors Ende.
Wie ich mir das Glück vorstelle ist ein einfacher und ergreifender Roman, voller Poesie und voller Dramatik; ein kraftvolles Debüt, dem hoffentlich mehr folgen wird.
Für die Literaturplattform Zehn Seiten hat Martin Kordić eine Passage seines Buches gelesen.
Link: Das schrieb Sophie Weigand auf ihrem Blog zum Buch.
Link: Bei Silvia Walter machte Martin Kordić zuerst Station.