„Seien Sie auf der Hut!“ – Ein Leitfaden für Britische Soldaten
Die Deutschen haben ihre Gefühle nicht gut im Griff. Sie weisen einen hysterischen Charakterzug auf. Sie werden feststellen, dass Deutsche häufig bereits in Wut geraten, wenn auch nur die kleinste Kleinigkeit danebengeht.
Diese Sätze sind an die britischen Soldaten gerichtet, die 1944 den Rhein überschreiten. Ihr Auftrag lautet, Deutschland zu besetzen, von den Nationalsozialisten zu befreien und den Krieg entgültig zu beenden. Alles, was sie für diese heikle Mission wissen müssen, steht in einem kleinen Büchlein, das ihnen die britische Heeresführung mitgegeben hat.
Die große Invasion der Allierten in der Normandie war gelungen und nun galt es, ins deutsche Kernland vorzudringen. Der Direktor für politische Kriegsführung hatte den Kleinoktavband mit dem markanten roten Umschlag zusammenstellt. Vierhunderttausend Exemplare wurden verteilt. Der Text sollte die meist jungen britischen Soldaten vorbereiten auf ein „merkwürdiges Volk in einem merkwürdigen, feindlichen Land“, das immer noch im festen Griff der Nazipropaganda und -ideologie steckte.
Das bedeutet nicht, dass alle Deutschen Lügner, Heuchler und Unmenschen sind. (…) Es bedeutet jedoch, dass sich der Deutsche Nationalcharakter unter dem Einfluss der Nazis deutlich verschlechtert hat. Seien Sie auf der Hut. Wenn Sie mit Deutschen Umgang haben, müssen Sie auf der Hut sein.
Der Leitfaden für Britische Soldaten in Deutschland 1944 ist ein einzigartiges Zeitdokument, das heute – 70 Jahre später – erneut mit Gewinn gelesen werden kann. Er hält uns einen Spiegel vor, in dem wir ein Bild von uns erblicken, das manchmal erschreckend, manchmal amüsant und (unfreiwillig) äußerst komisch ist.
„Am liebsten Bier.“ Und: „Die Deutschen essen lieber Schweine- und Kalbfleisch als Rind und Schaf und kochen es auch besser.“ Von Schnitzeln mit Sauerkraut ist die Rede, von Leber- und Mettwurst, davon, dass Fußball in Deutschland nicht so hart gespielt wird wie auf der Insel, und dass Kricket und Rugby unbekannt sind. Die Beschreibungen des deutschen Alltags, der Vorlieben und Gebräuche ist zusammengewürfelt aus Vorurteil und Wahrheit. Der Leitfaden für Britische Soldaten verführt immer wieder zum Schmunzeln, wirkt in einigen Passagen drollig, bietet aber auch durchaus ernsthafte Einblicke von außen in die „Deutsche Seele“.
Wenn Sie die Deutschen kennenlernen, denken Sie wahrscheinlich, dass sie uns sehr ähnlich sind. (…) Aber sie sind uns nicht so ähnlich, wie es scheinen mag. Die Deutschen haben viele gute Eigenschaften. Sie sind sehr fleißig und gründlich. Sie sind gehorsam und lieben Sauberkeit und Ordnung über alles. (…) Sie sind stolz auf ihre Kultur und ihre Kunst, Musik und Literatur. Doch seit Jahrhunderten sind sie daran gewöhnt, sich Autoritäten zu fügen – nicht etwa, weil sie ihre Herrscher für weise und gerecht hielten, sondern weil ihr Gehorsam mit Gewalt erzwungen wurde.
Das habe die deutsche Geschichte, die in einem eigenem Kapitel pointiert umrissen wird, hinreichend bewiesen. Die Deutschen lassen sich allzu leicht verführen, stellt der Leitfaden weiter fest. Das habe Hitler weidlich ausgenutzt.
Er hoffte, eine Roboterrasse ganz nach seinem Herzen heranzüchten zu können. Derzeit können wir noch nicht beurteilen, inwieweit dieser unmenschliche Plan erfolgreich war.
In jedem Deutschen stecke potentiell ein Nazi, ein Kriegsverbrecher, deshalb sollten Briten stets Distanz und Anstand wahren und allergrößte Vorsicht walten lassen. Es gilt der eiserne Grundsatz „Keine Fraternisierung!“ Am wichtigsten aber sei, dass die britischen Soldaten als Repräsentanten einer demokratischen Weltmacht „gelassen und selbstbewusst sind, dass sie im Umgang mit einer besiegten Nation streng, aber zugleich auch fair sein können“.
Die Deutschen müssen selber fair und anständig werden, wenn wir später mit ihnen in Frieden leben wollen.
1944, als der Leitfaden geschrieben und verteilt wurde, war nichts abwegiger als die Vorstellung von Deutschland als einer befreundeten und verbündeten Nation. Doch schon wenige Jahre später erfolgte ein entscheidender Schwenk der offiziellen Position. Geschuldet war er dem Beginn des Kalten Krieges. Deutschland wurde nicht mehr (allein) als der besiegte Feind behandelt, sondern als als potentieller Alliierter gegen eine neue sowjetische Bedrohung. Möglich wurde das, weil die britsichen Besatzer einen Grundsatz eisern befolgten, den das kleine Brevier nie müde wird zu betonen: „Be smart, be firm, be fair.“
Diese wundervolle Mischung aus Klischee und Analyse ist ein beredtes Dokument der Zeitgeschichte, ein Quellenwerk, das die Stimmung der kurzen Zeit zwischen Krieg und Frieden, zwischen Besatzung und Befreiung, zwischen Feindschaft und Freundschaft eindrucksvoll festhält.
Es mag Ihnen merkwürdig vorkommen, dass die Deutschen zugleich sentimental sind. Sie lieben melancholische Lieder. Sie neigen zu Selbstmitleid.
In Großbritannien ist der kleine Leitfaden vor sieben Jahren von der Bodleian Library, Oxford University, erneut veröffentlicht worden. Der Autor Christian Kracht hat diese Ausgabe seinem Verleger Helge Malchow bei einem gemeinsamen Italienaufenthalt auf das Nachtschränkchen gelegt. Malchow war sofort gefesselt. Ihn beeindruckte, wie zuvor schon Christian Kracht, vor allem die „unglaubliche Zivilisiertheit, mit der die britische Regierung angesichts des Grauens, das Deutschland in die Welt getragen hatte, auf dieses Land und seine Bewohner schaut.“ In seiner Einleitung nennt Malchow die zweisprachige Ausgabe für deutsche Leser eine (späte) Pflicht, der er gerne nachgekommen ist.
Aus dem Englischen von Klaus Modick
Zweisprachige Ausgabe in Deutsch und Englisch
Gebunden, 160 Seiten
Köln: Kiepenheuer & Witsch 2014