Wenn wir bleiben könnten – Gedichte von Lily Brett
Dieser Beitrag fällt aus dem Rahmen des sonst üblichen bei lustauflesen.de, denn er ist geprägt von einer bereits länger zurückliegenden Begegnung mit Lily Brett und einer sehr persönlichen Beziehung zu ihren Texten. Anlass ist ein kleines Bändchen mit ausgewählten Gedichten, das vor wenigen Tagen im Insel Verlag erschienen ist. Lily Brett hat den Band gemeinsam mit der Übersetzerin Jutta Kaußen zusammengestellt und in einem knappen, aber aufrichtigen Vorwort erläutert. Wenn wir bleiben könnten präsentiert die Gedichte im amerikanischen Original und in der deutschen Übersetzung.
»Bis ich sechs war«
Bis ich sechs war
glaubte ich wir lebten im Paradies
dieses Land ist das Paradies
sagte mein Vater allabendlich
wenn er nach Hause kam
von seiner Doppelschicht
an einer Nähmaschine
in diesem Garten der Götter
wo Männer Zäune anmalten
und Vögel nie klagten
und braune Hunde vor Glück kläfften
lebten wir
neue Rekruten in diesem blauen Königreich
mit Tante Regina und Onkel Felek
zwei Familien zwei Räume
meine Mutter handelte und kaufte ein
ihr Haar wuchs wieder
sie summte Lieder
und obwohl ihre Nummer nie verblasste
und sie ihre tote Familie besuchte jede Nacht
dachte sie mein Vater hätte recht
wir lebten im Paradies
Ausgewählte Gedichte
Ich denke immer über Wörter nach. In meinem Kopf stelle ich Wörter zusammen und nehme sie wieder auseinander. Meine Tagträume handeln von Wörtern und woraus sie bestehen. Andere Leute haben Tagträume von Essen oder Wein oder Urlaub. Ich träume von Wörtern und manchmal auch von einem Lottogewinn. – Lily Brett
Sie sei nicht eben die entspannteste Person, sagte Lily Brett, aber das Schreiben von Gedichten beruhige sie. Anders als bei den Romanen und Erzählungen reduziere sich hier alles auf ein Minimum, konzentriere sich auf den wahren Kern ihrer Gefühle. Viele der Gedichte sind ihrer Mutter gewidmet, ihren Leiden und Qualen, aber auch ihrem Glück. Lily Bretts Eltern hatten im Ghetto von Lodz geheiratet, überlebten getrennt das Konzentrationslager Auschwitz und fanden sechs Monate nach Kriegsende wieder zueinander. In einem Lager für Displaced Persons in Bayern wurde 1946 Tochter Lily geboren. Zwei Jahre später wanderte die Familie nach Australien aus. Heute lebt Lily Brett in New York, ist verheiratet mit dem Künstler David Rankin und hat drei erwachsene Kinder.
Deutsch, Polnisch, Englisch; das Jonglieren mit drei Familiensprachen, das Suchen nach dem richtigen Wort, der passenden Formulierung hat Lily Bretts Kindheit und Jugend geprägt. Das Ringen mit der Sprache, das Tasten nach Ausdrücken für Gefühle und Gedanken, die schmerzvollen Erinnerungen der Eltern, die ständige Mahnung der Shoah bestimmen auch die Auswahl des vorliegenden Gedichtbandes. Sie hätte lieber skurrilere Texte versammelt, statt all dieser Gedichte mit soviel Traurigkeit an den Rändern, schreibt Lily Brett im Vorwort, doch sie habe dann doch nichts geändert, sich abgefunden mit dem Bogen, den das Buch mit dieser Auswahl nun schlägt
Wenn wir bleiben könnten
in diesem Kuss
wenn wir bleiben könnten
so wie jetzt
Eine Begegnung
Die Gedichte sind sparsam, wenn es darum geht Raum auf dem Papier einzunehmen, aber sie öffnen sich beim Lesen und werden groß wie das Leben. Ich habe den Band am Wochenende zweimal durchgelesen, langsam, Wort für Wort, Zeile für Zeile. Das hat mich sehr bewegt. Plötzlich sah ich Lily Brett wieder vor mir stehen, wie sie bereits viele Jahre zuvor real vor mir gestanden ist.
1999 hatte ich das große Glück, Lily Brett persönlich kennenzulernen. Sie war auf Lesereise in Deutschland, um ihren Roman Einfach so zu präsentieren. Für das Kulturmagazin Ticket vom SFB habe ich damals über sie und ihr Buch einen Beitrag produziert. Lily Brett hatte wenig Lust, für diesen Fernsehbeitrag mehr Zeit zu opfern als nötig. Ich wurde einer zierlichen, zurückhaltenden und beinahe schüchternen Frau vorgestellt. Sie sprach langsam und bedächtig, schien jedes Wort abzuwägen. Wenig war zu spüren von der umwerfenden Komik, die mich in ihrem Roman so fasziniert hatte, sie wirkte nervös mit einem Hauch von Neurotik. Doch nach kurzer Zeit lockerte die Stimmung auf, ein munteres Gespräch kam in Gang und Lily Brett willigte schließlich ein, zusätzlich zum Interview im Hotel auch noch einige Aufnahmen auf Berlins Straßen zu machen. Wir hatten einen Draht zueinander gefunden, plauderten lange über viele Themen und hatten einen angenehmen Nachmittag.
Kurze Zeit später überraschte mich der Postbote mit einem kleinen Päckchen. Es enthielt eine Ausgabe von Lily Bretts Auschwitz Poems mit einer handgeschriebenen Widmung. Das wunderbare kleine Geschenk öffnete mir erstmals die Welt ihrer Gedichte. Hier werden Worte für das Unsagbare gesucht, wird ein lebenslanger Prozess der Bewältigung abgebildet und immer wieder zur Versöhnung aufgerufen.
Wenn wir bleiben könnten ist ein Querschnitt aus bislang sieben veröffentlichten Gedichtbänden. Eine wunderbare Sammlung, durch die der Leser Lily Brett noch besser kennen lernt, als in ihren autobiographisch gefärbten Romanen und Erzählungen.
Ausgewählte Gedichte | Englisch und deutsch
Übersetzt von Jutta Kaußen. Mit einem Vorwort von Lily Brett.
Klappenbroschur, 120 Seiten
Berlin: Insel Verlag 2014
Mehr Informationen und eine Leseprobe auf der Webseite des Verlages