Der Mann ohne Eigenschaften – Ein dickes Ding für die Ohren
Das Zeitalter ist unphilosophisch und feig; es hat nicht den Mut zu entscheiden, was wert und was unwert ist, und Demokratie, auf das knappeste ausgedrückt, bedeutet: Tun, was geschieht!
Robert Musil »Der Mann ohne Eigenschaften«
Heute ist der 134. Geburtstag von Robert Musil. Im Zentrum seines literarischen Schaffens steht der Versuch, die Spaltung des modernen Bewusstseins in eine innere und äußere Wirklichkeit zu überwinden. Musil stellt dem statischen Wirklichkeitssinn der realitätsgläubigen Macher einen offenen »Möglichkeitssinn« gegenüber. Der beschränkt sich nicht auf die manifestierte Wirklichkeit, sondern behält stets das in ihr latent implizierte Unmanifestierte im Auge. Im Großroman Der Mann ohne Eigenschaften hat Musil den Versuch unternommen, den »Möglichkeitssinn« in allen Varianten durchzuspielen, doch er fand keinen Abschluß. Zwei wundervolle Hör-Editionen machen es möglich, sich Musils Meisterwerk zu nähern.
MoE – Ungekürzt vorgelesen
Als ein »audio-literarisches Großunterfangen« hat es die FAZ bezeichnet, als Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften als ungekürzte Hörbuchlesung erschienen ist. Beinahe 63 Stunden Gesamtspielzeit komprimiert auf 4 MP3-CDs, vertrieben von »Zweitausendeins« in zwei bibliophilen Edition in einem stabilen Pappschuber.
In Die Literarische Welt erwähnte Robert Musil 1926 erstmals seinen Roman, der damals noch Die Zwillingsschwester heißen sollte. Nach 23 Jahren intensiver und aufreibender Arbeit waren die ersten beiden Bände mit zusammen 1.679 Seiten fertig. Doch bis dahin hatte Musil sich längst in seinem eigenen Großwerk verzettelt. Der Tod traf ihn mitten in der x-ten Überarbeitung eines der Kapitel des dritten Teiles. Der Mann ohne Eigenschaften blieb Fragment und gilt bis heute als eine der größten Herausforderungen für Leser.
Musil schwebte eine satirische Bestandsaufnahme von Politik, Wissenschaft und Philosophe des frühen 20. Jahrhunderts vor. Hauptfigur ist Ulrich, der Mann ohne Eigenschaften, der nach mehreren vergeblichen Versuchen, ein berühmter Mann zu werden, zum Sekretär der »vaterländischen Aktion« ernannt wird. Dieses Komitee will in Kakanien den Feierlichkeiten zum 30-jährigen Thronjubiläum des deutschen Kaisers Wilhelm II. im Nachbarland eine eigene Jubelfeier parallel zur Seite stellen, nämlich die zum 70-jährigen Herrschaftsjubiläum des österreichischen Kaisers Franz Joseph I. In einem gewaltigen Kaleidoskop zersplittert Musil die Geschichte eines untergehenden Landes in tausende Einzelteile. Er setzt sich über die gängige Trennung von Erzählung, Essay und Philosophie hinweg und formt seinen Text zu einem gigantischen Kampf um die Wahrheit. Objektive Sachlichkeit, beißender Spott und hinreißender Erzählton wechseln sich unermüdlich ab. Das ist alles andere als leicht verdaulich; nicht umsonst zählt Der Mann ohne Eigenschaften zu den am häufigsten nur halb gelesenen oder gar nicht gelesenen Büchern deutscher Sprache.
So gesehen war das Unternehmen des Hessischen Rundfunks, im Jahr 2004 eine ungekürzte Radiolesung mit Wolfram Berger als alleinigem Sprecher zu starten, durchaus riskant. Doch der Wagemut wurde belohnt. Das Lob von Kritik und Zuhörern nach der Ausstrahlung von Buch eins und zwei des Mammutwerkes war hymnisch. Konsequent wurden auch die von Musil für beendet erklärten Kapitel aus dem Nachlass eingesprochen. Sie tragen den programmatischen Titel »Ins Tausendjährige Reich. Die Verbrecher«. Es folgen 20 weitere Kapitel, die Musil zwar noch für den Druck vorbereiten wollte, aber nicht wirklich endgültig abgeschlossen hat. Dass Musils großartiger Text in dieser Lesung wirklich lebendig wird, ist das große Verdienst von Wolfram Berger. Er verfügt nicht nur um das nötige österreichische Timbre in der Stimme, sondern er schafft es auch, den in der Erzählung fest verankerten »denkenden Menschen« darzustellen. Kleinste Nuancen in Tonfall und Stimmhöhe verleihen allen handelnden Personen unverwechselbare Charaktere und hauchen ihnen glaubhaft Leben ein. Dabei wirkt Berger niemals vorausschauend; stellvertretend für den Hörer erforscht er Wort für Wort Musils Text, immer offen für überraschende Wendungen und Wandlungen. Das ist Hörvergnügen in Vollendung.
Leider sind die beiden schönen Hörbucheditionen nur noch antiquarisch zu erhalten, doch eine Suche nach ihnen lohnt sich. Zum Beispiel bei zvab.com.
Ungekürzt gelesen von Wolfram Berger
Eine Co-Produktion mit dem Hessischen Rundfunk und dem RBB.
35 Stunden und 40 Minuten. In einem Leinenband mit Beibuch im Schuber
Frankfurt/M.: Zweitausendeins 2005
Ungekürzt gelesen von Wolfram Berger
Eine Co-Produktion mit dem Hessischen Rundfunk und dem RBB.
27 Stunden und 12 Minuten. In einem Leinenband mit Beibuch im Schuber
Frankfurt/M.: Zweitausendeins 2007
MoE – Ein Remix als Hörspiel
Parallel zum Hessischen Rundfunk wagte sich auch der Bayerische Rundfunk an den Mann ohne Eigenschaften. Hier entschieden sich die Redakteure allerdings für eine Berabeitung, die den Roman auf eine 20-teilige Hörspielreihe verkürzte.
20 Stunden Weltliteratur. Die sich weit verzweigende Handlung, immer wieder von essayistischen Exkursen unterbrochen, ist in der österreichisch-ungarischen k.u.k. Monarchie kurz vor dem ersten Weltkrieg angesiedelt. Der Zugriff auf das gesamte Mann ohne Eigenschaften-Konvolut, das sich aus Veröffentlichungen, aus Druckfahnen und Entwürfen in unterschiedlichen Textstufen zusammensetzte, aber auch Musils essayistische und vielstimmige Erzählweise und die Unabgeschlossenheit des Romans führten zu der Überlegung Hör- und Gedankenspiele zu produzieren und eine auditive Erzählform mit inszenierten Textpassagen und nacherzählenden bzw. reflexiven Originaltonsequenzen zu entwickeln. / Mit Manfred Zapatka, Ulrich Matthes, Susanne Wolff, Wolf Bachofner, Ulli Maier, Angela Winkler, Josef Bierbichler, Ignaz Kirchner, Wolfgang Hübsch, Sunnyi Melles, Achim Buch, Nadine Geyersbach, Michael Rotschopf, Peter Fricke, Dorothee Hartinger, Jens Wawrczeck, Gottfried Breitfuß, Oliver Stern, Felix von Manteuffel / Konzept: Katarina Agathos, Herbert Kapfer / Skript: Katarina Agathos, Klaus Buhlert, Herbert Kapfer / Regie: Klaus Buhlert / Wissenschaftliche Beratung: Walter Fanta / BR 2004
Das 20-stündige Hörspiel ist zusammen mit einem umfassenden Begleitbuch auch auf CDs veröffentlich worden. Im Hörspielpool von BR2 wird sie auch als MP3 komplett und kostenlos angeboten. (Mehr dazu in einem älteren Beitrag.)
MoE – Gestrichelt
Auch der unvergleichliche Zeichner Niclas Mahler hat sich des gewaltigen Romankolosses angenommen und hat ihn auf knapp 150 Seiten zusammengestrichelt. Die heitere Graphic Novel konzentriert sich zwar nur auf wenige Handlungsstränge und dringt doch durch zum Wesenskern des Riesenbuches. (Mehr dazu in einem älteren Beitrag.)
Biographisches
Karl Corino, einer der profiliertesten Kenner Musils, hat vor etlichen Jahren die definitive Biographie vorgelegt. Darin steigt er, auf über 2.000 Seiten, auf jeden noch so kleinen Grat und erkundet selbst den letzten verborgenen Winkel in Leben und Werk von Robert Musil. Mehr zu diesem Mammutwerk hier: Karl Corino setzt Robert Musil ein biographisches Denkmal.