Karl Corino setzt Robert Musil ein biographisches Denkmal
Betrachtet man die deutschsprachige Literatur des 20. Jahrhunderts als ein Gebirge, dann bietet das ein sehr weitläufiges Wander- und Kletterevier. Da sind die kleinen Zweitausender, die sich ohne übertriebene Mühe und ohne umfangreiche Ausrüstung im gemütlichen Schritt erobern lassen. Daneben finden sich Drei- bis Viertausender, bei denen die Route im voraus gut gewählt sein will und die schon ein gewisses Maß an Kletteroutine und Equipment erfordern. Und es stehen da, unnahbar und schroff, einige Achttausender, die sich nur mit größter Krafttanstrengung und Geduld bewältigen lassen. Einer dieser Riesen sträubt sich besonders gegen jeden Gipfelsturm, selbst sein Autor konnte das Gipfelkreuz nicht erreichen. Die Rede ist von Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“, jenem Mammutroman, der unvollendet geblieben ist. Eine 2200 Seiten starke Herausforderung, nimmt man alle Entwürfe und Fragmente hinzu.
Karl Corino hat diesem Massiv nun eine Art Routenbuch und Kletterhilfe zur Seite gestellt. „Robert Musil. Eine Biographie“ lautet der schlichte Titel. Doch was für ein Klotz von einem Buch präsentiert sich da: 1460 Seiten Text, 565 Seiten Anhang, zusammen ergibt das ein 2026 Seiten dickes, edel gestaltetes Dünndruckexemplar, dem man zunächst fast ebenso resignierend und erschlagen gegenübersteht wie Musils gewaltigem Romanhauptwerk. Sich auf Karl Corino als Führer durch das Musilsche Gebirgsmassiv anzuvertrauen ist indes die beste Wahl, denn dessen Erforschung hat sich Corino, der gelernte Germanist, seit vielen Jahrzehnten verschrieben. Der Grundstein zu dieser gewaltigen Biographie wurde schon in den frühen 70er Jahren gelegt, als Corino zusammen mit Adolf Frisé in der Literaturabteilung des Hessischen Rundfunks tätig war.
Adolf Frisé war es, der mit einer sorgfältigen von ihm herausgegebenen Ausgabe das Werk Musils zuvor wieder aus dem Dunkel der Vergessenheit und des Verbotes ans Licht geholt hatte. Karl Corino wiederum hatte sich kurz zuvor mit seiner Dissertation über das Musilsche Frühwerk erstmals intensiv mit dem Menschen und dem Literaten Musil beschäftigt. Beim Rundfunk erwachte dann neben der streng wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Musil ein eher journalistisch geprägtes Interesse, dem lange Zeit vergessenen Autor eine breite Schar neuer Leser zuzuführen. Das Ergebnis waren so bemerkenswerte Bücher wie „Robert Musil, Leben und Werk in Bildern“ (leider nur noch antiquarisch erhältlich) oder „Robert Musil, Thomas Mann. Ein Dialog“. Nun also, quasi als Krönung seiner jahrzehntelangen Recherchen, diese Biographie. Sie stellt alles, was bisher über Musil veröffentlicht wurde, in den Schatten. „Grandios“, „gewaltig“, „bahnbrechend“, „fundamental“: die Kritik lobt in den höchsten Tönen.
Nun mag es sein, daß gerade deutschsprachige Leser bei einer Biographie dieses Umfanges zunächst zurückschrecken. Anders als in der angelsächsischen Kultur werden biographische Werke bei uns immer noch primär als schnelle und vor allem übersichtliche Informationsquellen für wichtige Lebensdaten angesehen. Ungeachtet einer wahren Flut biographischer Werke, ist die wirklich virtuose, literarische Biographie uns einfach noch nicht vertraut. In den letzten Jahren hat sich das zum Glück geändert, und Karl Corino hat mit seinem Werk über Musil ein Art Musterexemplar dieser literarischen Form vorgelegt, dem man viele Nachfolger wünscht.
Zunächst einmal ist „Robert Musil. Eine Biographie“ ein Zeugnis fleißiger Detektivarbeit und jahrelanger Schnipseljagden in Archiven und Ämtern, viele Quellen hat Corino überhaupt erstmals erschlossen, was enorme Beharrlichkeit und Entdeckerfreude voraussetzt. Monate, wenn nicht sogar Jahre hat er damit verbracht, Gespräche mit Zeitzeugen, Freunden, Verwandten, Bekannten, mit Nachbarn und Briefpartnern Musils zu führen. Allein die physischen Anstrengungen dieser Arbeit und die darin investierte Zeit lassen sich so schnell nicht wiederholen. Auch wenn Corino sein Material eindampft, es bleibt einfach immer noch soviel übrig, daß sein Buch unweigerlich auf die vorliegende Größe angeschwollen ist. Doch gerade diese Fülle macht seine Qualität aus, denn vieles von dem, was Corino ans Tageslicht geschaufelt hat, wäre mit Sicherheit sonst für immer verloren gewesen. Sein Erzählton ist angenehm nüchtern und trocken, paßt sich so ganz dem wenig aufregenden Lebens Musils an, das Corino als unauffällige, manchmal stockende Karriere schildert. Hin und wieder würde man sich als Leser gerne etwas mehr Feuer in der Erzählung wünschen, und hin und wieder stört auch der mäandernde Stil, die serielle Aneinanderreihung von Fakten, Anekdoten und kleinsten Informationsbröckchen, den Lesefluss. Corino bietet keine breite und ausgetretene Gipfelroute, die allen potentiellen Bergsteigern im musilschen Gebirge gerecht wird, sondern er zeichnet sorgfältig alle möglichen Steige, Überhänge, Kamine und Routenvarianten in seinen Musil-Atlas, ohne gleich eine direkte Wertung beizufügen, wie sinnvoll diese Varianten und Seitenwege letztlich sind.
Dem unvorbereiteten Leser wälzt sich so eine gewaltige Materiallawine entgegen, der er zunächst wehrlos ausgesetzt ist. Corinos Biographie ist kein Buch, das man in einem Rutsch durchlesen kann, um sich einen schnellen und kompakten Überblick über Leben und Werk Musils zu verschaffen. Doch in seiner enzyklopädischen Breite ist es andererseits bestens geeignet, selbst zu entlegenen Detailfragen und ganz speziellen Aspekten hilfreiche Informationen anzubieten. Es ist Biographie und Handbuch zugleich.
Musils schriftstellerische Arbeit war stets ausgerichtet auf die Synthese von Genauigkeit und Seele. Diese Synthese hat er auch dann noch gesucht, wenn sich sein Schreiben – sei es aufgrund körperlicher Schwächung durch Krankheit oder der akribischen und geduldigen Suche nach dem passenden Ausdruck – ins Stocken geriet. Musil hat nur für sein Werk gelebt. Ganz besonders gilt das für den „Mann ohne Eigenschaften“, seinen großen unvollendeten Roman, der ihn fast vier Jahrzehnte seines Lebens beschäftigt hat und der ihm, je länger er daran arbeitete, förmlich unter der Schreibfeder zerbröselte. Kein Wunder also, daß diesem Werk, an dem Musil im wahrsten Sinne des Wortes gescheitert ist, auch in Corinos Biographie der größte Raum gewidmet wird. Gerade dieses „Scheitern aus Prinzip“ wird durch den nüchternen Ton und die unprätentiöse Darstellungsform, die Corino wählt, plastisch nachvollziehbar. Doch auch das übrige Schaffen Musils – vom „Törless“ über „Drei Frauen“ bis zu den Essays und den Tagebüchern – wird breit und immer wieder erhellend diskutiert. Es wäre wünschenswert, daß Corino mit seinem biographischen Parforceritt Musil von neuem für die Welt der Leser erschließen kann.
Band 1: Erstes und Zweites Buch – Band 2: Aus dem Nachlaß
Herausgegben von Adolf Frisé
Gebunden, zus. 2192 Seiten
Reinbek: Rowohlt Verlag (14. Aufl.) 2009
Diese Ausgabe liegt auch als Taschenbuch vor. Aber, wer sich mit Musils Riesenwerk länger auseinandersetzten möchte, sollte die gebundenen und fadengehefteten Dünndruckbände vorziehen. Sie „halten einfach länger durch“.
(Dieser Artikel wurde erstmals im Juli 2004 im alten Angebot von lustauflesen.de veröffentlicht.)