Jetzt heißt’s Seiten fressen – Notizen zu meinem Longlist-Pensum
Es sind einige Tage ins Land gezogen, seit die Jury des Deutschen Buchpreises 2015 die Longlist mit 20 nominierten Romanen bekannt gegeben hat; der Wettbewerb um den Preis für den »besten deutschsprachigen Roman« ist gestartet. Die Medien quittierten die Liste mit verhaltenem Applaus und durchwegs wohlwollend, wirklich harsche Kritik wie in einigen zurückliegenden Jahrgängen blieb diesmal aus. Natürlich ist es auch heuer »eine Liste, die es allen recht macht«, wie Richard Kämmerling in der WELT konstatiert und auch begründet. Andererseits: »Preisvergaben sind als demokratische Veranstaltungen« ohnehin nicht denkbar, sagt Kathrin Schmidt (Preisträgerin 2009 mit Du stirbst nicht) im Interview mit dem Blog Sätze & Schätze, es allen recht machen, den Konsens mit möglichst breiter Basis zu finden, ist schlechterdings unmöglich.
Auch wir Buchpreisblogger haben uns beraten und sortiert. Nicht alle von uns werden alles lesen, aber wir haben sichergestellt, dass jeder Roman auf der Longlist mindestens einmal ausführlich besprochen wird, und – wenn alles nach Plan läuft – sich zu diesen Rezensionen dann zweite und/oder dritte Meinungen hinzugesellen. Das große Lesen hat hinter den Kulissen begonnen und zu einigen Titeln wurden bereits lange vor dem Buchpreisprojekt schon Artikel veröffentlicht; so der Kaffeehaussitzer zu Risiko von Steffen Kopetzky und das buchrevier zu 89/90 von Peter Richter. Ich selbst habe im April eine Halbzeitbilanz zu Frank Witzel und Die Erfindung der Roten Armee Fraktion…. gezogen; die wird demnächst überarbeitet und abgerundet, wenn ich ausgewählte Kapitel und Passagen dieses wuchtigen und sperrigen, aber ebenso genial-skurilen Schelmenstücks noch einmal gelesen habe.
Nun also zu meinem weiteren Pensum und zu dem, was auch für mich neu sein wird. Da ist zunächst Winters Garten von Valerie Fritsch, die zuletzt beim Bachmannpreis in Klagenfurt mit ihrem Text Das Bein reussierte und auch mich sehr beeindruckt hat. Winters Garten ist mit gut 150 Seiten einer der kürzesten Romane auf der Longslist. Aber was Fritsch in diesen bescheidenen Umfang »hineinzupressen« in der Lage ist, überwältigt. Mein Resümee nach gut der Hälfte des Romans, in dem es um Sehnsüchte, Träume, Geborgenheit und Verlust geht, fällt positiv aus. Fritsch schreibt in einer konzentrierten, präzisen Sprache, die Erzählhaltung des Textes osziliiert zwischen Distanz und Nähe zu den Figuren und der Ton schangiert zwischen Kälte und Wärme.
Ähnliche Qualität erhoffe ich mir auch von Jenny Erpenbeck und ihrem Roman Gehen. Ging. Gegangen. In gewisser Weise ein sehr zeitaktueller Text, geht es doch um afrikanische Flüchtlinge auf dem Berliner Oranienplatz und die Frage, wie wir die Welt betrachten und in der Welt unser Selbstverständnis (auch als Europäer) finden. Jenny Erpenbeck durfte ich vor vielen Jahren näher kennenlernen, als ich anläßlich ihres Romandebüts Geschichte vom alten Kind einen Fernsehbeitrag mit und über sie produzieren durfte. 1999 war das und unter anderem haben wir von der Kamera begleitet ihre alte Schule im Prenzlauer Berg besucht. Seit diesem Drehtag mit der sympathischen Schrifstellerin habe ich ihre literarische Entwicklung und ihren Werdegang gerne und aufmerksam verfolgt, allerdings nur noch aus der Distanz als Leser.
Erst seit wenigen Tagen liegt der Roman Siebentürmeviertel von Feridun Zaimoglu in den Buchhandlungen. Der deutsche Schriftsteller mit türkischen Wurzeln sorgt – ebenso wie die russischstämmigen Alina Bronsky und Vladimir Vertlib – dafür, dass auf der Longlist auch Stimmen von Autoren mit Migrationshintergrund zu hören sind. Zaimoglu begibt sich in seinem Roman (auch auf den Spuren seines Vaters) in die Vergangenheit eines Istanbuler Stadtviertel, das von jeher geprägt war von Einwanderung, von Durchmischung der Kulturen und vom Nebeninander ganz verschiedener Mentalitäten. Dorthin flieht 1939 ein deutschen Junge vor der Verfolgung durch die Gestapo. Ganz ehrlich? Auf dieses Buch stürze ich mich mit großer Neugier, aber auch etwas Ehrfurcht. Denn: 800 Seiten sind ein Pfund, das erst einmal weggesteckt werden will. Mal sehen, wie viel ich schaffe bis zur Bekanntgabe der Shortlist.
Auch bei den nächsten beiden Titeln der Longlist, die ich mir vornehmen möchte, spielt mir die Terminlage nicht gerade in die Karten. Eigentlich müssten wir tanzen von Heinz Helle und Die Stunde zwischen Frau und Gitarre von Clemens Setz erscheinen erst in gut zwei Wochen. Bei Helle kein Problem, denn sein Roman über eine Gruppe junger Männer in einer plötzlich zerstörten Heimatstadt und über ihre Suche nach dem Sinn und Grund des Überlebens ist mit 170 Seiten ähnlich kurz wie der von Valerie Fritsch. Letztere debütiert mit ihrem Werk bei Suhrkamp, Helles Roman ist bereits sein zweiter, der bei dem renomierten »Platzhirsch unter den Verlagen« erscheint. Typische Suhrkampautoren seien beide, heißt es bisweilen. Ob ich herausbekomme, wie das genau definiert wird? Ich bin gespannt.
Und noch einmal Suhrkamp: der Zufall will, dass gleich alle drei nominierten Titel aus diesem Verlag auf meiner Liste stehen. Clemens Setz’ Werk allerdings läßt mich erzittern, vor Spannung und Neugier einerseits, andererseits aber angesichts von über 1000 Seiten auch ein wenig furchtsam. Das ist keinesfalls zu stemmen bis zur Shortlist. Doch wenn es so läuft wie die Auguren vorhersagen, dann hat Setz dort seinen Platz ohnehin sicher und mir wird mehr Lesezeit gegönnt bis zur Preisverleihung. (Nebenbei sei verraten: zu Die Stunde zwischen Frau und Gitarre wird es ein eigenes großes Leseprojekt geben. Mehr Infos dazu, wenn alles wirklich spruchreif ist.)
Die Claims sind abgesteckt, hinter den Kulissen haben die Buchpreisblogger längst ihre intensiven Leküren gestartet. Und Ihr? Habt Ihr Lieblingstitel auf der Longlist, die sofort gelesen werden wollen? Der Kommentarberiech setht offen, sagt uns Eure Meinung und schaut regelmäßig auf die Seiten der Buchpreisblogger. Wir brauchen Euch, denn nur wenn Ihr alle mitdiskutiert, wird dieses Projekt ein Erfolg.
buchrevier – Tobias Nazemi | Buzzaldrins Bücher – Mara Giese | Kaffeehaussitzer – Uwe Kalkowski | Klappentexterin – Simone Finkenwirth | masuko 13 – Jacqueline Masuck | Sätze & Schätze – Birgit Böllinger
Außerdem verweise ich auf die Facebookseite des Deutschen Buchpreises. Hier werden alle Beiträge gesammelt und natürlich darf und soll dort ebenfalls engagiert diskutiert und komentiert werden.