Von Pflanzen und Physikern – Menschen am CERN
Daß ich erkenne, was die Welt
Im Innersten zusammenhält,
Schau alle Wirkenskraft und Samen,
Und tu nicht mehr in Worten kramen.
Was Goethe seinen Faust im großen Eingangsmonolog ausrufen läßt, gilt auch für die Menschen am CERN, der Europäischen Organisation für Kernforschung. Seit 65 Jahren wird auf dem zwei Quadratkilometer großem Gelände bei Genf nach den Ur-Kräften der atomaren Teilchenwelt gesucht, nach der Weltformel, sagen manche. Hin und wieder dringen Botschaften aus dem CERN nach draußen, etwa jüngst die Entdeckung des Higg-Teilchens, für die im „Great Hadron Collider“ Atome in kleinste Bestandteile zertrümmert werden. „Gottteilchen“ nennen es einige Physiker, „gottverdammtes Teilchen“ wahlweise andere. So oder so, der wissenschaftliche Laie versteht meist nur Bahnhof.
CERN, Abbk. für Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire (jetzt: Organisation Européenne pour la Recherche Nucléaire). Eine Europäische Organisation für Kernforschung auf dem Gebiet der Hochenergiephysik mit dem Ziel der gemeinsamen Grundlagenforschung. Offizielle Gründung 1954, Sitz: Genf, Forschungszentrum: Meyrin bei Genf, in Betrieb genommen 1959.
So schlicht definiert es der Brockhaus. CERN ist einer jener bilderlosen Orte, von denen jeder viel gehört, aber wenig gesehen hat, wie die Weltbank, der Vatikan oder das UN-Tribunal in Den Haag. Der Fotograf Andri Pol ist eingedrungen in die Welt des CERN, um sich und uns ein Bild von den Menschen zu verschaffen, die dort leben und arbeiten. Nicht wissenschaftliche Höchstleistungen interessierten ihn, sondern der Alltag. Pol begleitet die Menschen am CERN in die Kantine, folgt ihnen in Besprechungszimmer, schaut in einsame Büros oder karge Forschungszellen, blickt in endlose Gänge mit abgewetztem Linoliumböden, kontrolliert den Inhalt von Kühlschränken, nimmt Poster, Aufkleber und T-Shirt-Aufdrucke ins Visir. Andri Pol nähert sich den Menschen am CERN mit Neugier und Sympathie, seine Fotos bleiben dabei sachlich, nüchtern und dokumentarisch, sie bestätigen viele Vorurteile über Wissenschaftler und zertrümmern sie zugleich.
Ein Mann mit weißen Haaren und Vollbart, bekleidet mit Shorts und zerknittertem Polohemd, steht ratlos vor einer Kaffeemaschine. Das Coverbild eines Physikers, so scheints, der wie Faust nach dem sucht, was „die Welt im innersten zusammenhält“, aber an der Zubereitung von Kaffee scheitert. Andri Pol zeigt, auch mit sehr viel Humor, die Tücke des Alltags, den ganz normalen Wahnsinn am CERN, aber auch die Einsamkeit des Forschens, die Rituale der Kommunikation und die Verbissenheit auf dem Weg zum Erkenntnisgewinn. Die große Welterforschungsmaschine entpuppt sich dabei einerseits als ein in die Jahre gekommenes Konglomerat aus wild zusammengewürfelten Campusbauten, Baracken, Hallen, Parkplätzen und Rasenflächen, andererseits als ein gigantischer Moloch aus Stahl, Beton, Kabeln und Messgerätetürmen. Die Menschen, die dazwischen herumwuseln wirken oft verloren und winzig klein.
Das wahre Wesen des CERN zeigt sich im Detail. Grünpflanzen haben hier einen schweren Stand, auf vielen Fotos tauchen sie als blattlose Randexistenzen auf, als Gakel, die mehr verkümmern als blühen. Milch ist das Grundnahrungsmittel, glaubt man der Bildstrecke von Kühlschrankboxen. Millionenteure Gerätschaften stehen neben selbstgebastelten Improvisationen aus Schläuchen, Pappstücken und zusammgepfriemelten Drähten. Auch Kernphysiker kämpfen mit Kabelsalat am Computer oder Unordnung auf dem Schreibtisch. Sie lachen oder starren ernst auf Laptops, sie spielen Tischtennis oder liegen einfach auf dem Rasen in der Sonne. Das Leben der Enkel und Urenkel Einsteins wird bestimmt von wurschteligem Alltag und Hightech, während im Untergrund die Atome beinahe mit Lichtgeschwindigkeit durch den 27 Kilometer langen Ringtunnel flitzen.
Zwei Texte ergänzen die Bildstrecken. Im ersten erzählt der Schriftsteller Peter Stamm sehr launig von seinen Besuchen im CERN und den Gesprächen mit Wissenschaftlern, Technikern und Angestellten. CERN ist wie eine kleine Stadt mit Kindergarten, Feuerwehr, Tanzverein, Filmclub, Spielplätzen und einem großen Arbeitgeber; der produziert kein Konsumgut, sondern Wissen und Erkenntnis. Rolf Heuer, Generaldirektor der Forschungserinrichtung, umreißt in seinem Beitrag die Geschichte dieser Stadt und liefert grundlegende technische Daten. Mehrere tausend Menschen aus beinahe 20 Nationen arbeiten am CERN. Oberstes Gebot ist die Freiheit der Wissenschaft, alle Ergebnisse werden veröffentlicht, militärische Forschung ist verboten.
Menschen am CERN ist eine wundersame Fotoreportage, die gleichermaßen desillusioniert und beruhigt. Andri Pols Bilder zeigen keine Zauberwelt, kein geheimnisvolles Labor, keinen Science Fiction Zoo. CERN ist alles andere als gemütlich und behaglich, es ist eng, überfüllt, und an den Bauten nagt der Zahn der Zeit. CERN lebt von seinen Menschen, die kreativ sind und erfindungsreich, die mit viel Improvisationstalent Antworten auf grundlegende Fragen suchen. Aus jeder gefundenen Antwort ergeben sich neue Fragen und deshalb machen die Menschen am CERN weiter; sie beschleunigen Teilchen, sich und ihren Geist. Das alles ist wenig glamourös, wie die Fotos von Andri Pol mit Nachdruck belegen. Menschen am CERN sind keine faustischen Magier, sondern Menschen wie du und ich, und das beruhigt.
Sehr verdient hat dieser ungewöhnliche, aufwändig produzierte und liebevoll gestaltete Bildband den Hauptpreis bei der Preisverleihung zur Hotlist 2014 am 10. Oktober auf der Frankfurter Buchmesse errungen. Die Hotlist ist ein Leser- und Jury-Preis für Bücher aus unabhängigen Verlagen. Bei vielen galt Menschen am CERN lange im voraus als DER Geheimfavorit für den Sieg. Glückwunsch an Andri Pol und Lars Müller und Dank für den künstlerischen und verlegerischen Mut, dieses Projekt anzugehen. Möge die Fotoreportage über die Welterklärer vom CERN viele Leser und Betrachter finden. Sie hätte es mehr als verdient.
Europäische Organisation für Kernforschung
Mit Texten von Peter Stamm und Rolf Heuer
Gebunden, mit Flexicover, 432 Seiten
295 farb. Abbildungen
Zürich: Lars Müller Publishers 2014
ISBN 978-3-03778-262-0
Dieser Beitrag ist zuerst erschienen bei »We read Indie« im Rahmen der Artikelreihe zu den Titeln auf der Hotlist 2014. Danke an Caterina für die perfekte Organisation und Unterstützung.