Schweden von oben – Unterwegs mit Nils und den Gänsen
Dieser Beitrag beginnt mit einem vielleicht etwas peinlichen Geständnis. Nils Holgersson habe ich bislang nie gelesen, jedenfalls nicht das Original. Sicher, die eine oder andere Kinderbuchausgabe hat es in den frühen Lesejahren gegeben, auch wenn ich mich nicht wirklich an sie erinnere, verschiedene Verfilmungen sind besser im Gedächtnis geblieben. Sehr groß war deshalb die Überraschung, als ich in der Buchhandlung meines Vertrauens plötzlich diese dicke Neuausgabe des Klassiker als Band 359 in der Reihe Die Andere Bibliothek vor mir liegen sah. Das war der Moment, in dem lustauflesen.de Selma Lagerlöf, die 1909 als erste Frau mit dem Literaturnobelpreis geehrt wurde, endlich richtig entdeckt hat. Und ich bin sicher, mit dieser prächtigen Ausgabe werden viele weitere Leser den Klassiker wieder- und/oder neuentdecken. Nils Holgerssons Underbara Resa Genom Sverige
Die Geschichte vom frechen Jungen Nils, der lieber Tiere quälte und seine Mitmenschen mit Schabernack piesackte anstatt in die Schule zu gehen und ein braves Kind zu sein, der zur Strafe in einen Wichtel verwandelt wird, um mit den Gänsen durch Schweden zu reisen, diese Geschichte ist eine Auftragsarbeit gewesen. Der schwedische Lehrerverband hatte Selma Lagerlöf, die selbst eine Zeit lang als Lehrerin gearbeitet hatte, gebeten ein neues Schulbuch zu verfassen, in dem die Geographie und die Geschichte des Landes, sowie der Nationalcharakter Schwedens vermittelt werden sollten. Dieses neue Buch sollte ein älteres, aber durchaus sehr populäres Lehrwerk ablösen.
Die mit einem Schulbuch verbundenen konzeptionellen und pädagogischen Probleme hat Lagerlöf genial gelöst. Sie wählte die einfache Form des Märchens, um einen Überblick über die Landschaft und Wirtschaft, die Flora und Fauna ihrer Heimat zu geben, und es gelang ihr, didaktische Absichten mit der Kraft und Fabulierlust einer phantastischen Erzählung, sowie einem Reise- und Entwicklungsromans zu verknüpfen. Schöpfen konnte sie dabei auch aus ihrer eigenen Kindheit, in der sie als stilles Kind, das von einem Hüftleiden betroffen und zeitweise sogar halbseitig gelähmt war, von mündlich überlieferten oder niedergeschrieben Märchen geprägt wurde. Als erwachsene Schriftstellerin besann sie sich auf diesen Schatz der Kindheit und veredelte ihn, indem sie auch andere europäische Erzähltraditionen einbezog. So gesehen ist Nils Holgersson nicht nur ein schwedischer, sondern ein europäischer Roman.
Die eigentliche Niederschrift des Buches nahm dann allerdings viele Jahre in Anspruch. Kurz vor Ende der Geschichte taucht Selma Lagerlöf als Figur in ihrem Buch auf. Nils und die Gänse kommen zu einem Hof, auf dem eine Schriftstellerin lebt, der die nötigen Einfälle fehlen und die mit ihrer Arbeit nicht vorankommt. Die Begegnung mit dem reisenden Wichtel hilft ihr; sie hat plötzlich die passende Geschichte und kann endlich wieder schreiben. Ironische Selbstbezüge wie dieser, der Blick aus der Vogelperspektive auf das Land, im wahrsten Sinne des Wortes, der Traum vom Fliegen, die Mixtur aus Märchen und Sachbuch machen Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden auch heute noch zu einer faszinierenden Lektüre, nicht nur für kleine Menschen, sondern für alle, egal ob sie Schweden bereits lieben oder erst noch kennenlernen möchten.
Der große Erfolg des Buches in Schweden, sorgte bald auch für Verbreitung im Ausland. Nun werden Bücher, die (vermeindlich) nur für Kinder geschrieben sind, leider sehr häufig alles andere als adäquat behandelt. Von Nils Holgersson existieren, da glaube ich dem Nachwort, gut 50 unterschiedliche deutsche Übersetzungen, allen gemeinsam ist, sie treffen nicht den Ton des Originals und sie sind alle unvollständig. Thomas Steinfeld hat sich deshalb hingesetzt und Nils Holgersson komplett neu und ohne jede Kürzung übersetzt; eine Arbeit, die er nicht angegangen wäre, so schreibt er in seinem Nachwort, hätte er geahnt, wie kompliziert und mühsam sie werden würde. Steinfeld hat durchgehalten, sehr zur Freude der Leser. Diese Übertragung wird Selma Lagerlöfs Sprache mit ihren Eigentümlichkeiten, dem wunderbaren Schwedisch einer vergangenen Zeit, endlich gerecht (das habe ich mir von einem Freund, der des Schwedischen mächtig ist, bestätigen lassen).
Die Andere Bibliothek hat sich bekanntermaßen zum Ziel gesetzt, kleine bibliophile Meisterwerke zu liefern. Dazu gehören eine limitierte und numerierte Auflage von 4.444 Exemplaren, ein Halbschuber, Fadenheftung, Lesebändchen und eine jeweils dem Text angepasste, besondere Gestaltung. Die besorgte bei Nils Holgersson Manja Hellpap, indem sie den Einband im grau-weißen Federkleid schimmern läßt und innen die schönen, blaugefärbten Illustrationen von Bertil Lybeck beigegeben hat, die bereits die schwedische Ausgabe von 1962 schmückten. Und obwohl die 667 Seiten des Romans eng bedruckt sind, hat Manja Hellpap einen angenehmen Seitenspiegel hinbekommen, der sehr augen- und lesefreundlich ist. Inhalt, Übersetzung, Aufmachung: Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden ist ein Gesamtpaket, dem nicht zu widerstehen ist. Mir jedenfalls hat die Reise mit Akka von Kebnekaise, dem Adler Gorgo, dem Gänsemädchen Asa oder dem kleine Mats und natürlich mit Nils durch die schwedischen Provinzen, bis ganz hinauf in die Weiten Lapplands, viele vergnügliche und auch belehrende Lesestunden beschert.
Auf der Liste der Geschenkklassiker zum diesjährigen Weihnachtsfest sollte dieses Buch ganz oben stehen.
Aus dem Schwedischen übersetzt und mit einem Nachwort von Thomas Steinfeld
Mit Illustrationen von Bertil Lybeck
Buchgestaltung Manja Hellpap
Gebunden, 708 Seiten (Sonderausgabe der Anderen Bibliothek)
Berlin: Die Andere Bibliothek 2014
Die hier auf den Fotos gezeigte fadengeheftete, limitierte Erstausgabe des Buches im Hablbschuber ist leider vergriffen.