merk=würdig (II) – Wie der Vampir in die Literatur kam
In der Reihe »merk=würdig« schreibe ich in loser Folge über Lieblinge aus der Bibliothek, über kleine Kostbarkeiten oder Raritäten; ich berichte über Bücher, die mir ans Herz gewachsen oder besonders schön gestaltet sind. Heute geht es um eine Wiederentdeckung und darum, wie der Vampir in die Literatur gekommen ist (und mit ihm auch Dr. Frankenstein). In einem kleinen Band der Reihe C.H.Beck textura sind, erstmals vereint und neu übersetzt von Reinhard Kaiser, die beiden ersten Vampir-Erzählungen nachzulesen. Ergänzt hat Kaiser die Texte von John William Polidori und Lord Byron um einen detaillierten Bericht über den »Gruselsommer von 1816«.
Byrons bestes Product
Im Jahr 1819 ist bei Leopold Voß in Leipzig die deutsche Übersetzung eines kleinen Textes erschienen, der zuvor bereits in England für Aufsehen gesorgt hat. Der Vampyr. Eine Erzählung von Lord Byron. Es ist die Geschichte des Edelmannes Lord Ruthven (sprich: Rivven), der die Londoner Gesellschaft mit Charme, Eloquenz und Empfindsamkeit entzückt. Doch in Wahrheit ist Lord Ruthven ein Untoter, der sich vom Blut seiner Mitmenschen ernährt, die ihm bedingungslos verfallen.
Damit betrat erstmals der blutsaugende Vampir die Bühne der Literatur, und er hat sie bis heute nicht verlassen. Auch Goethe hat die Erzählung angeblich mit größtem Vergnügen gelesen und soll gesagt haben: »Byrons bestes Product«! — Aber hier irrte der Geheimrat. Der wahre Verfasser von Der Vampyr war nicht George Gordon Byron, sondern John William Polidori. Der bemühte sich zwar den Irrtum aufzuklären, doch vergebens; lange, sehr lange galt Lord Byron als Erfinder des Vampirs.
Der Gruselsommer 1816
Alles beginnt im Jahr 1816, das in die Geschichte eingehen sollte als Jahr ohne Sommer. In der Villa Diotati bei Lausanne am Genfer See trifft sich eine illustre Feriengesellschaft. Der verregnete, kalte und von Gewittern durchzuckte Juni fesselt sie in ihrem Haus. Langeweile macht sich breit und um die trübe Stimmung aufzulockeren, liest man sich gegenseitig düstere Geschichten vor, die zu dieser Zeit beliebten Gothic Novels.
Aus diesem Zeitvertreib erwächst dann die Idee zu einem kleinen Wettstreit: wer erfindet und erzählt die beste eigene Gruselgeschichte. Es ist Lord Byron, der den Erzählwettbewerb initiiert. Der damals schon sehr berühmte Dichter ist auch der Mieter der Villa und wird begleitet von seinem Arzt John William Polidori, der Byron allerdings mehr Gesellschafter als Mediziner ist. Zu Besuch sind Percy Bysshe Shelley, der philosophische Poet, und seine Geliebte Mary Godwin, spätere Mrs. Shelley. Die fünfte im Bunde ist Marys Stiefschwester Claire Clairmont.
Mit unterschiedlich starkem Eifer stürzen sich die Beteiligten in das Erzählprojekt. Ein Beitrag von Percy Shelley zum Gruselsommer ist nicht überliefert, vielleicht hat er auch nie einen begonnen. Den wohl bekanntesten und berühmtesten Text dürfte Mary Shelley aus der Villa Diotati in die literarische Welt geschickt haben: Frankenstein oder Der neue Prometheus. Die Idee zu diesem Roman über das Wesen des Lebens, über den Wahn und die Möglichkeit, gottgleich Kreaturen zu erschaffen, geht, glaubt man Marys Aufzeichnungen, auf lange Gespräche zurück, die sie zuvor bereits mit Byron über diese philosophischen und wissenschaftlichen Fragen geführt hat.
Frankenstein und sein Geschöpf sind seitdem fest verankert in Literatur, Kunst und Film. (Aber, das ist eine andere Geschichte und soll ein anderes Mal erzählt werden!)
Der Vampyr tritt auf die Bühne
Von Lord Byron selbst ist als Ergebnis des Wettstreits nur ein Fragment von fünf Druckseiten überliefert, das von einem jungen Reisenden erzählt, dessen Freund in Kleinasien stirbt und sich wünscht, dass sein Tod niemandem bekanntgegeben werden solle. Vermutlich nur mündlich wird Byron vorgetragen haben, wie die Geschichte weitergeht. Nach Jahren nämlich taucht der vermeintlich Tote wieder quicklebendig in London auf und avanciert zum Liebling der Gesellschaft. John William Polidori hat diese Geschichte später aufgegriffen, ausgeführt und niedergeschrieben. Anlass war eine Art Wette mit einer Gräfin aus Lausanne, die nicht glauben wollte, dass eine Erzählung mit einem blutsaugendem Untoten als Haupfigur glaubwürdig auszuführen sei.
Polidori lieferte mit The Vampyre den Gegenbeweis, ließ das Manuskript bei seiner Abreise aber in der Obhut der Gräfin, ohne eine Abschrift anzufertigen. Drei Jahre später gelangte es über Umwege nach London und wurde gedruckt; wohl ganz bewußt unter dem Namen Byrons, weil das mehr Rendite versprach. (So war der Irrtum zunächst in der Welt.) Polidori hat sich neben seiner Tätigkeit als Mediziner weiter als Schriftsteller versucht, der große Durchbruch aber blieb ihm versagt.
Dennoch, J. W. Polidori ist es zu verdanken, dass seit (beinahe) 200 Jahren der Vampir durch die Literatur- und Kulturgeschichte spukt. Freilich sind weitaus ältere Berichte über Vampirkulte überliefert, doch in diesen abergläubischen Volksmythen, die frühesten stammen überwiegend aus Kleinasien, sind Vampire in der Regel keine faszinierenden und anziehenden Persönlichkeiten. Bram Stokers Dracula, erst 80 Jahre nach Polidori zum ewig-untoten Sein verdammt, ist die bekannteste und am häufigsten be- und verarbeitete Ausformung, die Twilight Serie von Stephanie Meyer die bislang jüngste.
In seinem informativen Nachwort liefert Reinhard Kaiser neben allen Einzelheiten zur Geschichte des Gruselsommers auch einen kursorischen Überblick über die Vampire und ihre Widergänger in Kunst, Literatur, Film und Musik. Sein größter Verdienst aber ist, dass er den Ur-Vampir von John William Polidori, sowie das Fragment von Lord Byron in eigener Neuübersetzung erstmals vereint in einem Band herausgegeben hat. Eine schöne Wiederentdeckung. Der Vampir ist mehr als würdig, bemerkt zu werden.
Herausgegeben, aus dem Englischen übersetzt
und mit einem Nachwort versehen von Reinhard Kaiser
Klappenbroschur, 119 Seiten mit 8 Abbildungen
München: C.H.Beck (Reihe: textura) 2014
P.S.: Die Nacht in der Mary Shelleys Frankenstein geboren wurde: Trailer zum Film Gothic.
Eine düstere, spannende, aber nicht immer schlüssige Deutung des legendären Gruselsommers in der Villa Diotati lieferte 1986 der Regisseur Ken Russel in seinem Kinofilm Gothic. In den Hauptrollen: Gabriel Byrne, Natasha Richardson, Julian Sands und Timothy Spall.