merk=würdig (I) – Hunderttausend Milliarden Gedichte von Raymond Queneau
Dieser Beitrag ist der Startschuss zu einer neuen, losen Reihe. Aus der Bibliothek werden kleine Kostbarkeiten und Lieblinge geangelt, frei von jeder Aktualität. Ich stelle Bücher vor, die mir lieb sind, die mich beeindruckt oder herausgefordert haben, die ausgefallen, rar und gut sind oder einfach nur besonders schön gestaltet. Bücher, die würdig sind, bemerkt zu werden; merk=würdig eben!
Den Auftakt macht der französische Schriftsteller und Dichter Raymond Queneau, dem wir (unter anderem) die bezaubernd freche Zazie dans le Métro und die anregenden Stilübungen zu verdanken haben. 1961 erfreute er alle Liebhaber der Lyrik mit einem Band, in dem nicht weniger als Hunderttausend Milliarden Gedichte zu finden sind. Nun, eigentlich sind es lediglich zehn Sonette, deren einzelne Verse sich aber in einem Klappbuch endlos kombinieren lassen. Man kennt das Prinzip aus lustigen Bilderbüchern, in denen etwa Köpfe, Körper und Beine von Figuren blätternd beliebig neu zusammengesetzt werden. Werden statt Bildern Texte durcheinandergewürfelt, nennen Literaturwissenschaftler das »potentielle Literatur«, was uns aber nicht weiter interessieren soll, ebensowenig die Nähe Queneaus zu den französischen Surrealisten und ihren von Zufall und Unterbewußtsein gespeisten Literaturexperimenten. Im Vordergrund steht hier und heute der Spaß an der Kombinatorik und an der Permutation von Motiven und Themen; nebenbei, ein Spiel, das Literaten, Musiker und bildende Künstler schon immer und immer wieder fasziniert hat.
Es ist alles in allem so etwas wie eine Maschine zur Herstellung von Gedichten, in begrenzter Anzahl jedoch. Allerdings verschafft diese Zahl, obschon begrenzt, Lektüre für fast 100 Millionen Jahre, wenn man rund um die Uhr liest. – Raymond Queneau
2 aus 100.000.000.000.000
Der junge Maulheld ist der Nymphe Favorit
seitdem daß Lord Elgin die Nüstern ließ verdrecken
die Straße von der Kunst des Feuerschluckers sprüht
man bricht Narzissen ab und flezt sich in den EckenMan ist ganz überrascht von diesem Kolorit
wo Galilei warf mit Töpfen und mit Säcken
hier ist Etruskerschrift gegraben in Granit
wenn man erglühen sieht von Weitem schon die HeckenDer Genealogist erforscht den Ehestand
ein Wörtchen schon genügt voll ist sein Foliant
wenn man zum Hafen kommt im RegenbogenscheinEs ist das Uhrenziehn ein eitles Ritual
man trägt ganz ungeniert den alten Winterschal
die echte Zwillingschaft bejaht die Schicksalspein
Die Tabaksprise nimmt der Seefahrtsinvalid
seitdem daß Lord Elgin die Nüstern ließ verdrecken
die Straße von der Kost des Feuerschluckers sprüht
wer weiß denn ob dem Hai die Stichelbutten schmeckenWenn man vom schiefen Turm sich um ein Foto müht
wo sich zu tausenden die Heringsschwärme strecken
hier ist Etruskerschrift gegraben in Granit
da naht die Feuerwehr mit ihrem WasserbeckenGanz sicherlich nicht dumm ist Platons Griechenland
ein Wörtchen schon genügt voll ist sein Foliant
die Leichenträger gehn sich ihrem Job zu weihnEs ist das Uhrenziehn ein eitles Ritual
in Indien gibts zudem Gehänge ohne Zahl
der Stadtbahn hastet man vergeblich hinterdrein
Bewußt habe ich in meinen willkürlich ausgelosten Beispielen in jeder Strophe einen Vers gleich gelassen, um zu zeigen, wie elegant Queneau das mathematische Spiel hinter der Dichtung versteckt.
Geregelter Zufall
Es sind zehn Sonette, in wohlgesetzten Alexandrinern, und jeder erste Vers (zehn an der Zahl) kann mit zehn verschiedenen zweiten Versen in Übereinstimmung gebracht werden. Es gibt also bereits 100 (10×10) Kombinationen für die beiden ersten Verse. Fügt man nun einen dritten hinzu, dann sind es bereits 1.000 (100×10) Kombinationen. Das ergibt bei 14 Versen in zehn Gedichten also zusammen: 1014.
Raymond Queneau hat sich Regeln gesetzt für seine zehn Ausgangsgedichte. Mit etwas Geometrie und Harmonik hat er die nackte Arithemtik quasi in Zaum gehalten, den puren Zufall geschickt gesteuert. Die Reime, schreibt er, durften nicht zu banal sein, um Plattheiten und Monotonie zu vermeiden, aber auch nicht zu ausgefallen. In den Vierzeilern sollten mindestens vierzig verschiedene Worte vorkommen, in den Dreizeilern zwanzig. Jedes Ursprungssonett sollte ein Thema haben, aber so transparent bleiben, dass es mit den jeweils 9 anderen reizvoll kontrastieren konnte. Schließlich musste die grammatikalische Struktur die gleiche sein und bei den Versvertauschungen unveränderlich bleiben. (Dazu gehört auch, Unstimmigkeiten beim Wechsel vom Männlichen zum Weiblichen zu vermeiden oder von Einzahl zu Mehrzahl.) Am einfachsten wäre dies gewesen, wenn jeder Vers ein Hauptsatz gebildet hätte, doch diese Bequemlichkeit erlaubte sich Queneau nur im letzten der zehn Ursprungssonette.
Ludwig Harig hat 1984 die Sonette übersetzt und sich dabei, soweit sich das im Deutschen bewerkstelligen ließ, streng an die Regeln Queneaus gehalten. In einem Beiheft sind auch die französischen Originalsonette abgedruckt. Hannes Jähn hat für den Verlag Zweitausendeins, der damals noch innovativ, wagemutig und »wirklich cool« war, daraus ein schönes Buch gestaltet. Auch wenn mir das cremige Rosa als Farbe für Umschlag und Schuber bis heute Rätsel aufgibt, die Hunderttausend Milliarden Gedichte gehören zu meinen besonderen Lieblingsbüchern und Sammlerstücken.
Wie Lautrémont so schön gesagt hat, die Poesie soll von allen gemacht werden, nicht von einem. – Raymond Queneau
Zweifellos sind die zufälligen Kombinationen, die hier gebildet werden, nicht alle von gleichem Wert und gleicher Wucht. Sie stellen aber dennoch mehr als nur eine Ansammlung »erlesener Leichen« dar, wie André Breton seine aus kleinen Zetteln zusammengewürfelten Gedichte genannt hat. Raymond Queneau hat die »cadavre exquis« wiederbelebt und besselt, nun tanzen sie durch das Friedhofstor hinaus in die Freiheit: 100.000 Milliarden von ihnen.
Mit einem Nachwort von Francois Le Lionnais
aus dem Französischen Übertragen von Ludwig Haarig
Gebunden im Schuber mit Beiheft, ohne Seitenzahl
Frankfurt/M.: Zweitausendeins 1984
Das Buch ist nur noch antiquarisch erhältlich.