Roadtrip mit Odin durch die USA
Wenn ein Roman zu viele Vorschußlorbeeren bekommt, ist erst einmal Vorsicht angebracht. Denn man kann niemals wissen, ob so ein Buch das hält, was von ihm versprochen wird; auch wenn es im Ausland mit Lobeshymnen überschüttet wurde. „American Gods“ von Neil Gaiman ist so ein Buch. Ich gebe gerne zu, daß ich diesem Roman mit einer gehörigen Portion Skepsis gegenüber getreten bin, besonders auch weil er unter dem Schlagwort Fantasyliteratur einsortiert wird, einem Genre, dem ich bislang nicht allzu viel abgewinnen konnte.
Neil Gaimans „American Gods“ ist ein Art Roadmovie mit Göttern und Geistern
Doch schon nach den ersten vierzig bis fünfzig Seiten habe ich jegliches Mißtrauen über Bord geworfen. „American Gods“ ist ein wundervoller Roman, der voller verrückter Ideen steckt und obendrein auch noch gleichzeitig tiefschürfend und saukomisch ist. Nun, um ganz ehrlich zu sein, die anfängliche Skepsis war ohnehin ein wenig unbegründet, den Neil Gaiman ist eigentlich kein Unbekannter. Als Autor für die weltweit vertriebenen „Sandman“-Comis hat er eine riesige Fangemeinschaft, und Gaiman war ein sehr guter Freund und der Biograf von Douglas Adams (was für sich betrachtet schon ein Prädikat ist). Auch mit Terry Pratchett hat er schon zusammengearbeitet. Außerdem ist „American Gods“ nicht sein erster Roman, auch nicht der erste, der in deutsch erscheint. Aber „American Gods“ ist bislang sein bester und wird, da bin ich mir ganz sicher, nicht nur bei eingeschworenen Verehrern von Gaiman sein Publikum finden.
Aus dem Amerikanischen von Karsten Singelmann
Paperback, 624 Seiten
München: Heyne TB 2005
Worum gehts? Nach drei Jahren Knast kommt Shadow endlich wieder in die Freiheit. Das erste, was er erfährt, ist, daß seine Frau ein Verhältnis mit seinem besten Freund hatte, und daß beide bei einem Unfall gestorben sind. Auf dem Flug zur Beerdigung trifft er den seltsamen Mr. Wednesday. Der bietet Shadow einen Job als Bodyguard, rechte Hand und Fahrer an. Shadow willigt ein und rutscht so in ein wahnwitziges Abenteuer, denn der einäugige Rentner Mr. Wednesday ist niemand anderes als Odin, unter anderm auch bekannt als Wotan, Allvater oder der Grimmige.
Shadow erfährt, daß die alten Götter und Geister Europas, Afrikas und Asiens über Jahrhunderte hinweg zusammen mit all den zahllosen Einwanderen nach Amerika gekommen sind. Anfangs wurden sie noch von den Menschen verehrt und versorgt, doch mittlerweile fristen sie ihr Dasein als smarte Trickbetrüger, als wüste Trunkenbolde oder als Ausgestoßene am Rande der Gesellschaft. Neue Götter haben ihren Platz eingenommen; die Götter der Kreditkarten, der Autobahnen, des Internets und der Börse. Gegen diese Neuen Götter, deren Verkörperungen zunächst alles andere als mächtig und heroisch erscheinen, will Wednesday zu Felde ziehen, indem er eine große Götterschlacht vorbereitet. Um dafür mobil zu machen fahren Shadow und er durchs ganze Land. Shadow selbst wird am Ende in dieser großen Schlacht als eine Art Halbgott eine entscheidende Rolle spielen, eine Rolle die ihm Wednesday von Anfang an zugedacht hat und die ihm fast das Leben kosten wird.
Daß diese auf den ersten Blick wirre und abstruse Geschichte funktioniert, liegt an Gaimans einmaligem Talent fürs Geschichtenerzählen. „American Gods“ ist ein eigenwilliger Mix aus Thriller, Fantasy und Roadmovie. Wie bunte Perlen auf einer Schnur reiht Gaiman seine charmanten und versponnenen Ideen hintereinander auf. Sein Humor ist dabei ebenso erprobt wie seine Fähigkeit, Spannungsmomente im richtigen Moment zu setzen. Auch wenn es hier und da ein wenig holpert, im großen Ganzen ist der Text wie aus einem Guss.
Hinter dem heiteren Götterthriller verbirgt sich aber auch ein ernsthaftes Thema. Wie oft müssen sich US-Amerkaner anhören, daß sie keine Kultur, keine Geschichte und vor allem keine Mythologie hätten. Niemand würde Ländern wie Norwegen oder Irland jemals ihre Einzigartigkeit, ihre unverwechselbare Identität absprechen, heißt es einmal im Buch, nur bei den USA wird das angezweifelt. Zwischen den Zeilen von „American Gods“ geht es also um die Frage, was die Menschen und ihre Gesellschaft ausmacht. Wie können Mythen und Geschichte(n), kollektive Wurzeln und der Glaube an das Übernatürliche eine Nation definieren, wenn sie es denn überhaupt können. Letzten Endes schwingt sich Neil Gaiman auf, das unerschütterliche Selbstbild der Amerikaner ein wenig ins Wanken zu bringen und am Image der selbsternannten Weltmacht zu kratzen; der Brite Gaiman, der erst seit kurzem mit seiner Familie in den USA lebt, hat das Land treffender unter die Lupe genommen und beschrieben, als es ein „langjähriger“ Amerikaner jemals könnte.
Fazit: „American Gods“ ist ein spiritueller und halluzinatorischer Trip, der den Leser heiter-nachdrücklich dazu anregt, darüber nachzudenken, was real ist und was nicht unter der sichtbaren Oberfläche unserer modernen, schnellebigen Gesellschaft, und er ist ein Crash Kurs in Mythologie.
(Ursprünglich geschrieben im Januar 2004 – Besprochen wurde damals die Hardcoverausgabe.)