Eine gewaltige Preußenphantasie – »Zeithain« von Michael Roes
Michael Roes greift sich für seinen opulenten Roman Zeithain einen der tragenden Eckpfeiler des »Mythos Preußen« und meißelt reiche Verzierungen hinein. Das tragische Drama vom Kronprinzen Friedrich, der als König Friedrich II. (alias Friedrich der Große, alias der Alte Fritz) in die Geschichte eingehen sollte, und seinem Freund Hans Hermann Katte ist unzählige Male erzählt worden, doch selten so körperlich, fleischlich, psychologisch und bewegend.
Das Ende der Geschichte ist bekannt. Katte wird auf Befehl des Soldatenkönigs Friedrich Wilhelm I. geköpft, wegen Hochverrats und Fahnenflucht. Seinen Sohn Friedrich zwingt der König dieser Exekution in der Feste Küstrin beizuwohnen. Kattes Vergehen bestand darin, dem Kronprinzen Freund gewesen zu sein und ihm bei seiner Flucht vor dem prügelnden und lieblosen Vater geholfen zu haben.
Aber so viele Schilderungen mir vorschweben, das Ereignis selbst ist bisher immer nur auf den Kronprinzen Friedrich hin angesehen worden. (…) Und doch ist der eigentliche Mittelpunkt dieser Tragödie nicht Friedrich, sondern Katte. Er ist der Held, und er bezahlt die Schuld.
Theodor Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg
Michael Roes greift tatsächlich als erster die Anregung des großen Fontane auf und gießt diese in unzähligen Varianten kolportierte Preußenhistorie in einen großen Roman. Zeithain erzählt die Lebensgeschichte Hermann Kattes, dieses Mannes der historischen Fußnoten, als Mischung aus Bildungsroman, Tour de Raison, Sittengeschichte und spätbarockem Zeitgemälde, packend, deftig und voller entlegener historischer Details.
Orte und Zeiten
Zeithain kommt nicht im Gewand eines ordinären historischen Romans daher, sondern gibt sich als »eine Art Annäherung, eher eine Preußenphantasie als eine Recherche«. So jedenfalls bezeichnet der Icherzähler das, was er aus der Gegenwart rückblickend und räsonierend berichtet. Dieser Erzähler heißt Philip Stanhope, ist ein entfernter Nachfahre Kattes, ein Engländer und Sproß einer langen Linie illegitimer Söhne adeliger Fremdgänger, die bis auf Melusine von der Schulenburg, Herzogin von Kendal, einer Tante Hermanns, zurückgeht, und er beschließt, alle Orte zu besuchen, die wichtige Lebensstationen Kattes markierten. Im Verlauf dieser Reise quer durch Europa imaginiert er sich in seinen berühmten Vorfahren hinein. Dieser gelungene Kniff erlaubt es, mühelos dreihundert Jahre zu überspringen, Kattes Leben in der Ichform zu erzählen und mit ihm zu reden, zu feiern und zu leiden.
Knute, Drill und Erziehungsgewalt schweben über dieser Biographie. Kattes Vater ist Soldat, Disziplin und Pflichterfüllung gehen ihm über alles, dem Sohn werden das Flötenspiel, das Zeichnen und alle anderen »musischen Flausen« ausgetrieben. Als Schüler des Franck‘schen Pädagogium Regium in Glaucha bei Halle, das sich reformistisch nennt, aber nur Drill und pietistische Unterwerfung kennt, findet Katte zwar gleichgesinnte Freunde, aber leidet weiter unter der Gewalt, die hier zur Erziehung, wie zum Glauben gehört. Es folgen das Studium in Königsberg, wo der Vater Stadtkommandant ist, dann eine Kavaliersreise nach Frankreich und England, auf der Katte überfallen und nur knapp dem Tod entrinnt, aber auch erfährt, dass es anderes gibt in der Welt als preußische Enge, und schließlich der Dienst bei den Gens D‘Armes in Berlin. Ein Leben der inneren Leere. Einer Leere der Gesten, Leere der Worte, Leere der Gedanken, ein trauriger Carneval sinnentleerter Grausamkeit.
Väter und Söhne
Im Kern ist Zeithain ein Roman über Söhne, die sich des Griffs ihrer gewalttätigen Väter entledigen müssen, um frei zu werden. Wie Katte durchleidet auch der jüngere Friedrich dasselbe Martyrium, nur um ein vielfaches potenziert. Sein Vater, der Soldatenkönig, kennt nur Militär und Jagd, prügelt folglich alles weichliche aus seinem Sohn heraus, alles künstlerische, alles nachdenkliche, alles selbstbestimmte. Friedrich und Katte werden Freunde, weil sie leidende Brüder im Geiste sind. Auch der Erzähler Philip Stanhope musste sich von einem Übervater lösen, einem Mann, in dessen gleichförmig geordnetem Leben der Sohn wie ein Fremdkörper pulsierte. Nur deshalb gelingt es ihm, sich Katte als Alter Ego und Spiegel-Ich zu imaginieren. Auf seiner Katte-Exkursion glaubt Stanhope fest an die Magie des Ortes, an das »mythische Miasma der Kontinuität, das aus der Scholle aufsteigt und zumindest noch den Geruch der Authentizität verströmt, damit ich, wie ein Ethnologe alter Schule sagen kann, ich war da«. In Wahrheit aber bleibt alles Spekulation, denn die Stätten, die der adelige Engländer besucht, verraten ihm als leergeputze Unorte nichts. Im märkischen Wust, in Glauchau, Berlin und Küstrin, vor allem aber in Königsberg und im sächsischen Zeithain haben Kriege und Zeitläufte alle Spuren der Vergangenheit beseitigt. Die Zeit Friedrichs und Kattes ist ausgelöscht.
Körper und Seelen
Allen drei männlichen Hauptfiguren, dem Erzähler in der Gegenwart und den historischen Protagonisten Hans und Friedrich, ist gemein, dass sie zarte Seelen in gemarterten Körpern verbergen müssen. Verletzungen, Wunden und Narben zeichnen die Leiber, sind bleibende Zeichen, die im Text immer wieder betont, ja, beinahe verherrlicht werden. In der Rahmenhandlung nimmt diese Überbetonung des Körperlichen schaurig-phantastische Formen an. Philip Stanhope blutet nachts, von Albträumen geplagt, Bettlaken voll, die der geschäftstüchtige Hostel-Nachtportier wiederum als Kunst an Steuerberater verkauft. Ist das noch einigermaßen nachvollziehbar, geraten andere Episoden an den Rand jeglicher Glaubwürdigkeit und Logik, etwa wenn Philip Stanhope im Berliner Tiergarten einer sterbenden Koyotin hilft, zwei Engel zu gebären, einen dunklen und einen hellen. Diese Wesen zieht er heimlich groß, bis eines das andere zerfleischt. Philip wird heimgesucht von mystischen Wahnvorstellungen, Bildern von Sühne und Opfer. Die realistische, realistisch erzählte Lebens- und Opfergeschichte Kattes spiegelt sich im Rahmen, also im Geist des Erzählers, als pseudoreligiös überformte Mystik. Mögen hier Roes die literarischen Gäule leicht durchgehen, das alles ist doch brillant erzählt und komponiert.
Die gequälten und verletzten Körper verströmen gleichzeitig magnetische Energie. Das Leibliche geht einher mit sinnlicher Anziehung. Sehr fein und ohne je platt, peinlich oder gar explizit zu werden, zeigt Roes, wie und warum die Freundschaft zwischen Katte und Friedrich auch bedeutsame, schwule Traditionslinien gezogen hat. Zweifelsfrei belegbar ist ein homosexuelles Verhältnis der beiden allerdings nicht, zumindest kein geschlechtlich vollzogenes. Philip Stanhope wiederum wird überraschend mit einer schwulen Beziehung seines Vaters während seiner Zeit als britischer Soldat im Nachkriegs-Berlin konfrontiert. Viel klarer und verständlicher wird ihm das Vaterbild dadurch nicht wirklich.
Kopfkino und Gratwanderung
Kulminationspunkt ist das Mannöver von Zeithain. An diesem Ort, dessen Name klingt wie eine lerdachte, yrische Metapher, geht die größte Truppenübung über die Bühne, die Europa bis dahin gesehen hat. Eine protzige Leistungsschau der Königshäuser von Preußen und Sachsen mit 40.000 Soldaten. Riesige Besuchertribühnen werden errichtet, Interimspaläste und sogar ein komplettes Opernhaus. Und weil im Umland Bordelle und Spielhöllen aus dem Boden sprießen, wird das Heerlager zum Lustlager. In diesem unglaublichen Setting kommt es zur größten, finalen Demütigung Friedrichs. Sein Vater prügelt ihn vor versammelten Adel und Generalität zu Boden, beschimpft und bespuckt ihn, tritt ihn wie einen räudigen Hund in den Staub. Friedrich flieht in Richtung Frankreich, Katte zögert zunächst, folgt ihm aber doch und besiegelt so sein Todesurteil.
Alles das läßt Roes seinen Erzähler in einer Sprache berichten (imaginieren), die sich dem Tonfall des 18. Jahrhunderts treffend nähert, ihn aber zu keiner Zeit billig parodiert oder nachäfft. Spätbarocke Üppigkeit, deftiges Zeitkolorit und große Gefühle gehen Hand in Hand. Geradezu beseelt und bewegend schildert der Roman die letzten Stunden Kattes vor der Hinrichtung, ein Höhepunkt, in den sich im inneren Ringen der Hauptfigur bereits die ersten Zeichen der aufdämmernden Aufklärung einschleichen.
Zeithain ist vieles in einem: eine akribische Recherche, Bericht einer Reise über die Grenzen der Zeit hinweg und ein Roman über Väter und Söhne. Im Kern dreht sich alles um den Konflikt zwischen außerem Gehorsam und innerer Freiheit, an dem Hans Hermann Katte letztlich zerbricht. Er ist Freund des Kronprinzen, aber eben auch Soldat des Königs. Seine Loyalität zur Krone und seine Liebe zu Friedrich geraten in eine Zerreissprobe, die, unausweichlich wie in der griechischen Tragödie, tödlich endet. Friedrich wiederum musste mit diesem Trauma weiterleben und es auf seine Weise sublimieren. Bezeichnenderweise gilt er heute als Gewährsmann dessen, was »Preußens Tugend« ausmacht und gegen das er als junger Mann rebellierte, nämlich Disziplin, Gehorsam, Treue. Flötenspiel und Dichtkunst waren Beiwerk und melancholische Reminiszenz.
Wer über kleinere Schwächen, wie die unmotiviert und (leider) abrupt auslaufende Rahmenhandlung um Philip Stanhope oder einige allzu lang geratene Passagen in Kattes Reisebeschreibungen, hinwegsieht, findet in Zeithain einen opulenten und vielschichtigen Roman. Gut, dass Michael Roes den Wink Fontanes aufgenommen und uns mit dieser gewaltigen Preußenphantasie beschenkt hat, die ganz der ureigenen menschlichen Fähigkeit der Empathie vertraut.
Roman
Gebunden, 808 Seiten
Frankfurt/M.: Schöffling & Co. 2017
Mehr Informationen und eine Leseprobe auf der Webseite des Verlages