Nagasaki – Der Mythos der entscheidenden Bombe
Am 9. August 1945 kehrt ein Bomber der US-Luftwaffe zu seinen Stützpunkt auf der Insel Tinian, die zu den Marianeninseln mitten im Pazifischen Ozean gehört, zurück. Hinter der Besatzung des Flugzeugs liegen 17 Stunden Flug. Sie haben »Fat Man ausgeliefert«. Die Bombe, die Nagasaki in einem Sturm aus Hitze und Druck ausradierte. »Wir waren alle erleichtert, als wir unter uns den Blitz sahen«, gibt der Bordkommandant zu Protokoll. »Wir hatten dem Feind die zweite Atombombe geliefert.« Ein ähnlicher Angriff hatte drei Tage zuvor bereits die japanische Industriestadt Hiroshima restlos zerstört und dem Erdboden gleich gemacht. Beide Bomben töteten 92.000 Menschen sofort, bis Jahresende 1945 starben weitere 130.000 Menschen. Die Zahl der Opfer, die den Spätfolgen der Angriffe erlagen, erhöhte sich in den folgenden Jahrzehnten drastisch und kontinuierlich. Die Atombombe war die tödlichste Waffe, die der Mensch bis dahin entwickelt und gegen den Menschen eingesetzt hatte. Es sollte in der Geschichte der vielen kriegerischen Auseinandersetzungen auf der Erde (bislang) bei diesen zwei Einsätzen bleiben.
Die offizielle Propaganda hat den atomaren Angriffen auf Hiroshima und Nagasaki eine kriegsentscheidende Bedeutung zugeschrieben. Nicht sofort, aber doch sehr schnell. Lange hat sich dieser Mythos von der Notwendigkeit der Atombombe gehalten, bis heute. Der renommierte Fernsehreporter Klaus Scherer, Sonderkorrespondent beim NDR, hält nun energisch dagegen: beide Bombenangriffe seien nicht nur ethisch ungerechtfertigt, sondern auch militärisch unnötig gewesen. Vielmehr hätten die amerikanischen Militärstrategen im Supermächte-Wettlauf gegen die Sowjetunion, der unmittelbar nach der Kapitulation Deutschlands und dem Kriegsende in Europa eingesetzt hatte, einen Vorsprung gewinnen wollen. Im fortdauernden Pazifikkrieg verfolgten die USA plötzlich zwei Ziele gleichzeitig: offen genannt wurde die Kapitualtion Japans, geheimgehalten das Ringen mit der UdSSR und die Demütigung Stalins. Trotz der vorhersehbaren Folgen wurden deshalb die Atombomben abgeworfen und der Angriff mit all seinen schrecklichen Auswirkungen von der Propaganda als friedensstiftend umgedeutet.
Es ist erstaunlich. Klaus Scherers Nagasaki – Der Mythos der entscheidenden Bombe ist die einzige Neuveröffentlichung auf dem deutschen Buchmarkt, das den 70. Jahrestag der ersten und bislang einzigen Einsätze von Atombomben zum Thema macht. Das sichert dem Autor einen gewissen Vorsprung, gereicht ihm aber nicht in allen Punkten zum Vorteil. Nagasaki ist stark, sehr stark und eindringlich, wenn es die Erfahrungen, das Leid und auch die verständlichen Ressentiments der Opfer beschreibt. Die Interviews mit den Überlebenden der Atomblitze erschüttern regelrecht und rühren zu Tränen. Auch in der reinen Beschreibung der politischen Gemengelage, die zu den Bombenabwürfen geführt hat, zeigt sich Scherer sicher und solide. Doch in der tiefergehenden Analyse der Fakten offenbaren sich auch Schwächen. Zu sehr versteift sich Scherer auf seine Ausgangsthese, bei den Bomben – und vor allem bei der auf Nagasaki – habe es sich ausschließlich um kalkulierte, vermeidbare Verbrechen an der Menschheit gehandelt. Dem Mythos von der Notwendigkeit des Atomschlages, so Scherer weiter, werde bis heute vor allem in den USA kaum widersprochen. Das stimmt in dieser Verkürzung freilich nicht, wie eine Internet-Recherche, selbst eine mit wenig Aufwand, schnell zutage fördert.
Geschuldet ist diese Schwäche des Buches in erster Linie der Chronologie seiner Entstehung. Klaus Scherer ist Fernsehreporter, ein sorgfältiger und solide arbeitender, und er stützt sich in seinem Buch auf die Recherchen und Interviews, die er für seine Doku-Reportage Nagasaki – Warum fiel die zweite Bombe (Das Erste, 3.8.2015, 23:45 Uhr) geführt hat. Ein Fernsehfilm muss, um berühren und fesseln zu können, notwendigerweise und im vertretbaren Rahmen verkürzen, verknappen und emotionalisieren. Diese beim Fernsehfilm legitimen Techniken eins zu eins auf ein Buch zu übertragen, empfinde ich bei diesem Titel als Manko. Wie gesagt, Klaus Scherer ist Fernsehreporter und kein Historiker. Dass das Buch als Spin-Off zum Film die Sorgfalt und Regeln wissenschaftlicher Geschichtsschreibung ein wenig vermissen läßt, kann und will ich ihm nicht angekreiden, weil das ein Problem ist, das allen populären Sachbüchern innewohnt. Dennoch: einige wissenschaftliche Maßeinheiten – nicht zuletzt eine etwas genauere Aufschlüsselung von Quellen und exaktere Zitatnachweise – hätten dem Buch gut getan, zumal sich Scherer über weite Strecken ausschließlich dem japanischen Historiker Tsuyoshi Hasegawa als Gewährsmann anvertraut, einem Mann der des revisionistischen Gedankenguts nicht unverdächtig ist, (um es vorsichtig zu formulieren).
Nagasaki ist eine emotionale und berherzt-engagierte Streitschrift, der an einigen Stellen etwas mehr Diskussion, etwas mehr Spiel mit These und Antithese gut getan hätte. Alan Posener hat in einem Artikel in Die Welt vom 3. August 2015 Scherers Buch in Bausch und Bogen verissen und verdammt. Das habe ich als überzogen und unfair wahrgenommen. So schlecht ist Nagasaki keineswegs.
Der Mythos der entscheidenden Bombe
Gebunden, 256 Seiten
München: Hanser Berlin 2015