Die Signatur von Mo Hayder und der Protest – Ein Regalfund
Neulich hat lustauflesen.de die Bibliothek durchforstet, neu geordnet und aussortiert. (Bilder davon auf der Facebookseite.) Das ist wie beim Durchblättern eines alten Fotoalbums, viele Erinnerungen von früher tauchen auf und manches, was im Gedächtnis tief vergraben war, wühlt sich zurück an die Oberfläche. So auch diesmal, als unvermittelt ein Thriller in den Händen lag: Der Vogelmann von Mo Hayder. Die britische Autorin galt vielen bei ihrem Debüt im Jahr 2000 als neuer, glänzender Stern am Himmel der Krimiliteratur.
Der Vogelmann ist ein spannender Thriller, der die Grenze zum Ekel schrammt und auch überschreitet. Handlungsorte sind unter anderem Leichenhäuser und Sezierräume, in denen unappetitliche Dinge mit Leichen passieren, bis hin zur Nekrophilie. »Hard Boiled Crime Fiction« heißt das im englischsprachigen Raum und ist nichts für zarte Seelen. Aber das Richtige für Leser, die Extreme lieben.
Ich hatte damals, im Februar 2000, die Ehre und das große Vergnügen über Mo Hayder und ihr Buch einen Bericht für das Kulturmagazin Ticket vom SFB produzieren zu dürfen. Für das Interview kam eigentlich nur ein Ort in Frage, ein Seziersaal. Die Berliner Gerichtsmedizin sagte, zu meiner großen Überraschung, auf die Anfrage sofort zu. Es wurde ein angeregtes Gespräch zwischen Seziertischen, umweht von jenem seltsamen Duftgemisch aus Leichengeruch und und Desifenktionsmitteln. Am Ende natürlich die Bitte um ein signiertes Buch. Mo Hader beschenkte mich mit einem sehr ungewöhnlichen Eintrag.
Danke für den großartigen Tag in Berlin. Jedesmal, wenn ich eine Leichenhalle sehe, werde ich an Dich denken. Mit besten Wünschen. Mo Hayder. (25. Februar 2000)
Grandios, oder?! lustauflesen.de und Leichenhäuser gehören zusammen. Aber, halt! Das ist noch längst nicht alles. Im Buch lag, sauber zusammengefaltet, noch ein Brief.
Für den Beitrag brauchte es natürlich entsprechende Bilder. Als Einstiegssequenz wählte ich, aus einem Lehrfilm über Pathologie, den Eröffnungsschnitt einer Sektion, entsprechend verfremdet und abgemildert in schwarzweiß. Der Redaktion – und mir natürlich – gefiel das; nur einige Zuschauer hatten Einwände. Über die Chefredaktion erreichte mich folgender Schriftsatz.
Ich klage Sie an des Verbrechens gegen die Menschlichkeit, des Hausfriedensbruch und der seelischen Grausamkeit! – Wer berechtigt Sie dazu, so mit Ihren Zuschauern umzugehen? (…) Mit diesem Thema rücksichtslos in die Wohnzimmer hundertausender Zuschauer einzudringen? (…) Um Ihre Einschaltquote zu erhöhen, appellieren Sie an die tiefsten Abgründe der menschlichen Seele. (…) Dabei denken Sie nicht an Kinder und Jugendliche, deren Charakter noch formbar ist, die sogar zur Nachahmung angeregt werden könnten.
Dann folgte noch etwas über mich als »einen abgestumpften Menschen«, »künstlich geschaffene Gewalt, die nur dem Gehirn eines Psychopathen entspringen kann« und »die Ausgeburt einer sadistischen Phantasie«. Dazu muss man wissen, die Sendung wurde um 22 Uhr ausgestrahlt; da gehören Kinder ins Bett!
Der Fernsehbeitrag von damals ist online nicht verfügbar. Hier zu sehen sind immerhin zwei Screenshots, darunter auch der so heftig kritisierte Eröffnungsschnitt; nicht in bester Qualität, aber bekommt man einen Eindruck.


Im Laufe eines Reporterlebens erreichen einen viele Briefe (und heute natürlich Emails) von Zuschauern. Aber nie war einer an mich so erregt, aber auch so schön wie dieser. Er behält für immer seinen Ehrenplatz in Mo Hayders Vogelmann.
Der Vogelmann war der Auftakt einer Serie um den Ermittler Jack Caffery, der nicht nur mit brutalsten Fällen konfrontiert wurde, sondern auch noch mit Schatten in seiner eigenen Vergangenheit zu kämpfen hatte. Der zweite Fall für Jack Caffery war Die Behandlung, noch verstörender und brutaler als Der Vogelmann. Dann aber faserte die Reihe aus, wurde zunehmend unglaubwürdiger, vorhersehbarer und, sorry, auch langweiliger. Aber die ersten beiden Bände gehören nach wie vor zu meinen Favoriten, wenn es um wirklich dunkle und nervenzerrender Thriller geht. Als Taschenbücher sind sie nach wie vor erhältlich.

Aus dem Englischen von Angelika Felenda
Broschur, 416 Seiten
München: Goldmann TB 2002

Aus dem Englischen von Christian Quatmann
Broschur, 512 Seiten
München: Goldmann TB 2003
Hier noch der Link auf die offizielle Homepage von Mo Hayder (engl.).