Paul Celan – Eine Hommage
Dieser Beitrag ist ein doppelter Rittberger. lustauflesen.de ehrt Paul Celan, dessen 94. Geburtstag (23. November 1920) heute gefeiert werden könnte und erinnert an einen Roman von Lawrence Norfolk, denn bei der Suche nach Celans Gedichten ist mir dieses – ich muss gestehen, fast vergessene – Buch im Regal aufgefallen. Lawrence Norfolk hat vor 14 Jahren in seinem aussergewöhnlichen Roman In Gestalt eines Ebers Paul Celan ein kleines Denkmal gesetzt. Die kleine Besprechung des Buches, die ich damals im alten Angebot von lustauflesen.de veröffentlicht habe, soll hier nun noch einmal erscheinen.
Norfolk - In Gestalt eines Ebers
Auf den ersten Blick ist In Gestalt eines Ebers ein seltsam zerrissener Roman. Der erste Teil ist eine Nach- und Neuerzählung des großen antiken Mythos der kalydonischen Jagd, gespickt mit einem schier unüberschaubaren Meer von Fußnoten, allesamt akribische Nachweise bei antiken Autoren. Ein Mythos mit wissenschaftlichem Apparat. (Wikipedia: Der kalydonische Eber)
Die kalydonische Jagd spielt im 13. Jahrhundert vor Christus. Der König von Ätolien dankt den Göttern für eine reiche Ernte, vergisst aber Artemis ein Opfer zu bringen. Aus Rache sendet die Göttin der Jagd einen gewaltigen Eber, der das gesamte Land verwüstet. Meleagros, Sohn des Königs, ruft daraufhin die tapfersten Krieger seiner Zeit zusammen, um den Keiler zu jagen und zu töten.
Am Ende überleben nur drei dieser Jäger, darunter Atalante als einzige Frau bei dem Unternehmen. Sie treibt den Eber schließlich in eine Höhle und erlegt ihn.
Der zweite Teil von Norfolks Roman spielt 3000 Jahre später und handelt von Sol Memel, einem rumänischen Juden, der im Zweiten Weltkrieg auf der Flucht vor den Nazis die kalydonische Jagd gewissermaßen nochmal erlebt. Diesmal ist ein deutscher Wehrmachtsoffizier die Beute und griechische Partisanen sind die Jäger, unter ihnen Sol Memel. Im Kreis der Partisanen befindet sich auch eine Frau mit dem Kampfnamen Thyella, und die Freiheitskämpfer agieren in eben jener Region Griechenlands, wo einst schon der mythische Eber wütete.
Nach Kriegsende veröffentlicht Memel über seine Flucht und seine Erlebnisse im Krieg ein Versepos mit dem Titel „Die Keilerjagd“. Mit diesem Werk erringt der Schriftsteller schlagartig Weltruhm. Memels Jugendliebe, Ruth, will das Versepos sogar verfilmen. Gleichzeitig ruft es Widerspruch bei Jakob hervor, einem Jugendfreund des Dichters, aber einst auch ein Rivale beim Kampf um Ruths Liebe. Indem er eine Ausgabe der „Keilerjagd“ mit unzähligen Fußnoten überzieht, will Jakob beweisen, dass Memels Text nicht frei ist von Unstimmigkeiten, ja, dass der Autor Teile des angeblich historisch verbürgten Epos schlicht erschwindelt hat.
In Gestalt eines Ebers
In Gestalt eines Ebers
stampft dein Traum durch die Wälder am Rande des Abends.
Blitzendweiß
wie das Eis, aus dem er hervorbrach,
sind seine Hauer.Eine bittere Nuß
wühlt er hervor unterm Laub,
das sein Schatten den Bäumen entriß,
eine Nuß,
schwarz wie das Herz, das dein Fuß vor sich herstieß,
als du selber hier schrittst.Er spießt sie auf
und erfüllt das Gehölz mit grunzendem Schicksal,
dann treibts ihn
hinunter zur Küste,
dorthin, wo das Meer
seiner Feste finsterstes gibt
auf den Klippen:vielleicht
daß eine Frucht wie die seine
das feiernde Auge entzückt,
das solche Steine geweint hat.Paul Celan – 1954
Norfolk hat seiner Haupfigur Sol Memel große Ähnlichkeiten mit Paul Celan gegeben. Auch der war rumänischer Jude, floh vor den Nazis und schrieb später ein Gedicht mit dem Titel „In Gestalt eines Ebers“, veröffentlicht wurde es 1954. Auch Celan sah sich mit Vorwürfen konfrontiert, seine Vergangenheit mystifiziert zu haben, indem er Brüche und Rätsel in seiner Biographie einfach übertünchte. Selbst des dreisten Plagiats wurde Celan von einigen Kritikern und Literaturwissenschaftlern beschuldigt.
Norfolks Roman ist ein vielschichtiges und komplexes Gewebe, gesponnen aus verschachtelten Rückblenden und feinen Überschneidungen zwischen der Handlung im 20. Jahrhundert und der im antiken Griechenland. Es gibt keine verbürgten Wahrheiten, kein Kontinuum der Geschichte, jenseits der sinnlichen Wahrnehmungen Einzelner, wohl aber archetypische Charaktere und Konstellationen, die sich wiederholen. Das ist Norfolks Verständnis von Geschichte.
Norfolk schreibt mit hypnotischer Kraft, und er zieht den Leser von Anfang an in seinen Bann. In Gestalt eines Ebers überrascht immer wieder mit neuen Einblicken in das Verhältnis von Mythos und Realität, Dichtung und Wahrheit. Ein großartiger Roman.
Aus dem Englischen von Melanie Walz
Gebunden, 352 Seiten
München: Knaus Verlag 2000
(Leider nur noch antiquarisch erhältlich)
P.S.: In einem Interview, das ich mit Norfolk für einen TV-Beitrag zu seinem Buch Ende 2001 geführte habe, rekurrierte der Autor auch auf den Anschlag auf die Twin Towers in New York wenige Monate zuvor. Ihn frappierte das Bild der gigantischen Staubwolke, die sich nach dem Einsturz des Hochhauses durch die Straßenschluchten wälzte. Norfolk entdeckte darin eine weitere Inkarnation des klaydonischen Ebers. Eine im Staub und Schutt verborgene Macht, die alles überrollt, die zu besiegen und ihr zu entfliehen nicht möglich ist und deren wahres Antlitz eben in dieser Staubwolke verborgen bleibt. Ein bemerkenswerter Exkurs zu einem bemerkenswertem Roman.