Ein Geizhals und vier Geister – Das Weihnachtsmärchen
Die Geschichte von Ebenezer Scrooge kennt jeder, jenes Märchen vom Geizhals und Misanthropen, der über Nacht von vier Geistern besucht und geläutert wird. Aber haben wir Charles Dickens’ berühmte Weihnachstgeschichte wirklich gelesen oder kennen wir bloß eine der zahlreichen Verfilmungen? Jeder, der bei dieser Frage stockt und ins grübeln kommt, darf sich jetzt über ein kleines vorweihnachtlches Geschenk des Insel Verlages freuen.
Der Weihnachtsabend. Genauer, eine weihnachtliche Gespenstergeschichte ist Band 2010 der legendären »INSEl Bücherei«, ein schön gestalteter Band im etwas vergrößertem Format. Eike Schönfeld hat den Text neu übersetzt und Flix hat wundervolle farbige Illustrationen beigegeben. Herausgekommen ist eine neue, elegante und zeitgemäße Version des Klassikers; obendrein ein Kleinod der Buchgestaltung. Ideal zum selber lesen, vorlesen oder zum verschenken in der jetzt beginnenden Vorweihnachtszeit.
Ich habe in diesem gespenstischen Büchlein versucht, das Gespenst einer Idee auferstehen zu lassen, wovon meine Leser es sich nicht mit sich, miteinander, mit dieser Zeit oder mir verdrießen lassen sollen. Möge es in ihren Häusern pläsierlich spuken und niemand es bannen wollen. (Charles Dickens – 1843)
Von den fünf Weihnachtserzählungen, die Dickens zwischen 1843 und 1948 jeweils als separat erscheinendes Buch herausbrachte, ist diese erste nicht nur die berühmteste und beliebteste, sondern auch die beste, denn hier hat Dickens die beiden ihm wichtigen Aspekte so austariert, dass weder die Realität durch das Märchen verharmlost, noch das Märchen durch die Realität sentimentalisiert wird.
Anlass, diese Geschichte zu schreiben, waren aktuelle Parlamentsberichte über die Ausbeutung von Kindern in England. Charles Dickens, der als Kind in einer Fabrik für Schuhcreme hatte arbeiten müssen und so die elenden Arbeitsbedingungen und Zustände aus eigener Erfahrung kannte, versprach, gegen den Missstand einen entsprechenden »literarischen Hieb« zu führen. Die besondere Qualität der Weihnachtsgeschichte liegt nun darin, dass er nicht auf die konkreten Lebens- und Arbeitsbedingungen der Kinder einschlug, sondern auf die verhärteten und kalten Herzen der Verantwortlichen. Scrooge steht für alle seelenlosen, geizigen und hartherzigen Ausbeuter, Fabrikbesitzer und Geschäftemacher.
Es wäre grundfalsch, in dieser Geschichte punschseelige Weihnachtsbesinnlichkeit zu suchen. Der Hauptteil des Märchens beschreibt menschliches Elend und eisige Kälte. Am Ende aber, das ist das Märchenhafte an der Weihnachtsgeschichte, wird der eiskalte Panzer der Seele gesprengt, damit Wärme und Mitgefühl einziehen können. Nur wenn der Mensch sich ändert, besteht Hoffnung, auch die Welt zu ändern. Eine Botschaft, die (nicht nur) in die Vorweihnachtszeit passt.
Die Neuübersetzung von Eike Schönfeld klingt wohltuend frisch und zeitgemäß, ohne das Alter des Originals zu verleugnen. Die Illustrationen von Flix bestechen durch viele liebevolle und schrullige Details, sind aber dort, wo es nötig wird, auch entsprechend gruselig und böse. Ich kann mich einfach nur wiederholen: dieses Inselbändchen sollte man unbedingt lieben Mitmenschen oder einfach sich selbst schenken. Es sollte unbedingt gelesen oder noch besser vorgelesen werden. Ein Scrooge, wie es ihn bislang noch nicht gab …
Genauer, eine weihnachtliche Gespenstergeschichte
Mit Illustrationen von Flix. Aus dem Englischen von Eike Schönfeld
Gebunden, fadengeheftet, 147 Seiten
Berlin: Insel Verlag 2014 (=Insel Bücherei Nr. 2010)