Mit Nägeln im Kopf zurück ins Mittelalter – »Telluria« von Vladimir Sorokin
Endlich, nach drei Jahren Pause wieder Karneval in Köln. Die Jecken ziehen am Rosenmontag durch die Straßen und feiern, nein, nicht das Dreigestirn, sondern Präsident und Kanzler der unter den Zeichen von Halbmond und Kreuz geeinten Rheinisch-Westfälischen Republik. Sie sind Helden der Befreiung wie die muskulösen Amazonen, die in der Schlacht um den »Bochumer Kessel« die Taliban vernichtend geschlagen haben. Die Trolle und Gnome, die ebenfalls im Zug mitlaufen sind da schon die weitaus kleinere Sensation.
Derweil wird Moskau eingemauert, weil das kommunistische Zarentum Moskowien im Dauerclinch mit der SSSR liegt, der Stalinschen Sozialistischen Sowjetrepublik, die ausschließlich aber gut vom Tourismus der Stalinisten lebt. Das große Russland ist zerfallen in Kleinst- und Zwergstaaten, auch Europa als Ganzes ist zertrümmert. Der Kontinent wird von Salafisten überrannt oder ins tiefste abendländisch-christlich Mittelalter zurückgestoßen, wenn in Südfrankreich die Tempelritter ihre Republik Languedoc gründen. Die nähere Zukunft, die Vladimir Sorokin in Telluria herbeiphantasiert, ist düster und herrlich, je nach Standpunkt und Standort.
Falls je ein Gesamtbild dieser möglichen Zukunft existiert hat, so hält es Sorokin seinen Lesern vor. In fünfzig episodenhaften, untereinander nicht verbundenen Einzelkapiteln wirft er lediglich grelle Schlaglichter. Der Spiegel ist zertrümmert, die Fragmente zeigen lediglich Ausschnitte des Weltbildes, doch wer sagt denn, dass nicht auch in der Addition einer Zwischensumme das Endergebnis vorliegen kann. Die Sorokinsche Postapokalypse ist archaisch, Gentechnik hat Mensch und Tier zoomorph vermischt, Zwerge und Riesen treiben ihr Unwesen, Menschen sind auf der Flucht, auf der Suche nach Nahrung oder sie geben sich Wollust und Dekadenz hin. Wie gesagt, je nach Standpunkt und Standort, ist die Lage finster oder strahlend.
Zusammengehalten wird alles von Tellur, jener Droge die in der Bergrepublik Telluria, aus einer seltenen Erde gewonnen wird und die man sich in Form von Nägeln in die Schädel hämmert. Der Sehnsuchtsort Telluria produziert das, nach dem sich alle sehnen. Tellur kittet die Brüche in diesem aberwitzigen post-kapitalistisch-sozialistischen Utopia, dieser Mischung aus technologisiertem Mordor, elekrifizierter Mittelerde und psychedelischem Auenland. Tellur dämpft den Wahnsinn zwar, heilt ihn aber nicht. Tellur ist Opium fürs Volk; Denn aus ihm sprießt letzte Hoffnung. Alte, verlorene Werte, Ideen und Utopien der europäischen Kultur lassen sich im Tellur-Rausch rekonstruieren. Aber weil der Mensch ein Mensch ist, ändert er sich nicht. Und so wiederholt sich in der (imaginierten) Zukunft, was aus (realer) Vergangenheit und Gegenwart hinreichend bekannt ist. Separatisten kämpfen für die Republik Donezk, Kapitalismus und Sozialismus stehen sich unvereinbar gegenüber, Islamisten schleifen das antike Erbe und die Tempelritter reiten erneut gen Jerusalem auf der Suche nach dem Gral, allerdings diesmal auf drohnenartigen Raketengeschossen. Ernüchterndes Fazit: Wir stürmen nach vorn zurück ins Mittelalter.
Telluria von Vladimir Sorokin ist eine Dystopie, ja, aber eine parodistische. Dieser Roman ist eine Groteske, eine bissige Satire auf unsere Zeit der hybriden Kriege, ökonomischen Krisen und unseren verlogenen Konsumglauben. Gleichzeitig zerlegt Sorokin mit seinem Roman den Roman. Das geschichtliche Panoptikum präsentiert er als stilistisches Panoptikum. Die Kapitel verkleiden sich als Dramen, Balladen, Briefe, Gebete, Märchen, Reiseberichte, Traktat oder Appell. Im Ton wahlweise getragen, bissig, komisch, ironisch und ernst, streift er imitierend, phantasierend und parodierend durch die russische Literaturgeschichte. Diese Lawine aus Anspielungen, Anklängen un Anverwandlungen walzt unerbittlich über den Leser hinweg und erschlägt ihn mitunter. Aber er kann auch auf ihr surfen, wenn er Schwung holt und sich befreit.
In Telluria spielt Sorokin eine mögliche, wenn auch, zumindest auf den ersten Blick, wenig wahrscheinliche Zukunft durch. Andererseits hat der russische Postmodernist und vehemente Kritiker der Putin-Oligarchie in der Vergangenheit schon häufig Recht behalten mit seinen Visionen. Würde das mit Telluria auch der Fall, dann sähe es bald finster aus um uns oder strahlend, je nach Standpunkt und Standort.
Aus dem Russischen vom
Kollektiv Hammer und Nagel
Gebunden, 416 Seiten
Köln: Kiepenheuer & Witsch 2015
Das Kollektiv Hammer und Nagel bilden die Übersetzer*innen Sabine Grebing, Christiane Körner, Barbara Lehmann, Gabriele Leupold, Olga Radetzkaja, Andreas Tretner, Dorothea Trottenberg und Thomas Wiedling.