24 Türchen – Tilman Winterling im Interview zum neuen Adventskalender von »54stories«
Die schlichteste Form des Adventskalenders sind 24 an die Wand oder Tür gemalte Kreidestriche, von denen die Kinder täglich einen wegwischen dürfen. Die Tradition, die Tage bis zum Heiligen Abend, also bis zur Feier der Geburt Christi, zu zählen, entstammt dem protestantischen Umfeld und ihre Ursprünge lassen sich bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen. Der Adventskalender dient als Zählhilfe und Zeitmesser und bezieht sich entweder auf das Kirchenjahr, dann zeigt er die Tage vom 1. Advent bis Heilig Abend, oder auf den weltlichen Kalender, dann startet er am 1. Dezember. Die weltliche Version ist am weitesten verbreitet. Und weil sich die Profankultur des Adventskalenders längst frei und in vielfältiger Ausprägung bedient, bescheren uns auch zahlreiche Buch- und Literaturblogs vorweihnachtliche Kalender und Countdowns.
Besonders begeistert hat mich im vergangenen Jahr der Kalender von 54stories, der in diesem Jahr seine zweite Auflage erlebt. Hinter 54stories stecken Saskia Trebing, Autorin aus Berlin, und Tilman Winterling, Jurist und Blogger aus Hamburg. Ihre Idee: »Es gibt nie genug Geschichten, doch im literarischen Universum trudeln Schreiber und Leser oft aneinander vorbei. Warum also nicht in einem Adventskalender jeden Tag eine Geschichte oder ein Gedicht auswählen und kostenlos präsentieren.« Es kamen junge Autor*innen zu Wort die mit ihren Texten »den besten Schutz gegen vorweihnachtliches Gefühlsduseln boten«. Nun also der Adventskalender 2015 von 54stories. Tilman Winterling hat mir zu meinem Lieblingskalender vorab einige Fragen beantwortet:
Tilman, warum dieser neue Adventskalender? Aus Verzweiflung über der Mangel an neuen Idee oder weil es so ein toller Erfolg war im vergangenen Jahr? Warum sollten wir verzweifelt sein? Die Resonanz im letzten Jahr hat uns nicht nur überrascht, sondern auch stolz gemacht, weil eben nicht nur viele Leser gesagt haben, dass sie das Projekt mochten, sondern auch Autoren geschrieben haben, dass sie gerne schon für weitere Veröffentlichungen vorgemerkt werden wollen. Das waren mit Preisen dekorierte Leute, einmal aber auch eine Schülerin, die von uns einfach wissen wollte, ob sie schreiben kann. Und weil das Interesse auch nach dem Adventskalender ungebrochen an den weiteren Veröffentlichungen jeden Montag bis zur 54. Geschichte war, erschien es uns nur logisch auch wieder einen Kalender zu machen. Bescheiden darf hinzugefügt werden, dass nicht nur die Internet-Gemeinde, sondern auch überreginoale Zeitungen, Radio Fritz und sogar das ARD-Morgenmagazin sehr positiv auf den Kalender reagiert und darüber berichtet haben. Schnell kamen auch erste Anfragen von Literaturagenten, die Kontakt zu einzelnen oder mehreren unserer Autoren hergestellt haben wollten.
Wie kommt Ihr an die Texte? Geht Ihr auf Betteltour bei Autoren oder rennen die Euch inzwischen die Bude ein und Ihr braucht nur noch einzusammeln? Wir haben eine Mischung gefunden aus: Autoren, die wir gelesen haben oder kennen und uns für einen Beitrag wünschen, solchen, die uns von Freunden oder vorherigen Schreibern empfohlen wurden und Initiativeinreichungen. Wir haben ein paar mal gepostet, dass man uns ruhig Texte schicken soll und das waren fast immer nur solche Texte, die wir auf Anhieb mochten. Aber auch ein längeres Lektorat haben wir schon durchgeführt bzw. natürlich auch Leuten absagen müssen.
54stories ist ja mehr sein als nur ein »Kalenderverlag«. Gibt es schon spruchreife Pläne für die Zeit nach Weihnachten 2015? Wo wollt Ihr hin? Der Start letztes Jahr war eine ziemlich spontane Idee, die schnell umgesetzt werden wollte. Einige Autoren waren noch in der Schwebe, da lief der Kalender schon. Das haben wir dieses Jahr alles besser im Griff. Die bisherigen Projekte haben sich irgendwie immer logisch ergeben: Erster Adventskalender, Pause, dann dem Titel der Webseite gerecht werden und entsprechend 54 Stories voll machen, Pause, dann folgte eine erste Lesung in Berlin. Nun startet der neue Adventskalender und eine zweite Veranstaltung mit Lesungen und Gesprächen ist am 9. Dezember in Hamburg geplant.
Sicher ist bisher nur, dass es wieder einen Winterschlaf nach Weihnachten geben wird. Sicher ist bisher aber auch, dass wir weitere Lesungen veranstalten möchten. Für Literaturvermittlung ist 54stories als Plattform ein sehr guter Hafen, aber wir wollen unsere Schiffe auch immer wieder rausschicken und mit einem Pool von 54+24 Autoren ist ein Abend schnell gestaltet. Als nächste Ziele Lesungen könnten wir uns etwa München oder Köln gut vorstellen, aber auch meine hessische Heimat ist im Rennen. Und alles Weitere wird sich dann, wie bisher, hoffentlich ergeben.
Wer ist dabei? Könntest Du eventuell vorab verraten, wer sich hinter dem ein oder anderen Türchen in diesem Jahr versteckt? Nein, ich werde jetzt niemandem die Überraschung und die Vorfreude verderben. Nur so viel; die literarische Qualität halten wir so hoch wie im vergangenen Jahr, vielleicht können wir sie sogar noch steigern, mal abwarten. Und weil der Kalender 2014 immer noch online ist, blicke ich vorausschauend gerne zurück. Unsere Heiligabend-Autorin von damals, Inger Maria Mahlke, steht dieses Jahr mit ihrem Roman Wie ihr wollt auf der Longlist des Deutschen Buchpreises (Hier die Rezension von lustauflesen.de). Türchen IV, Julia Wolf, wurde für ihr Romandebüt Alles ist jetzt gefeiert. Saskia, Tür VII, belegte beim Literaturpreis Prenzlauer Berg 2015 den zweiten Platz, hinter und vor sich hatte sie mit Christian Dittloff und Valentin Moritz ebenfalls zwei 54stories Autoren. Aktuellste Erfolgsmeldung: Vor einigen Wochen hat die Autorin Marie Gamillscheg, Tür XXIX, den zweiten Platz beim New German Fiction Award belegt.
Zum Abschluss, Tilman, lass uns nochmals über den Adventskalender 2015 hinaus schauen. Euer Motto lautet, »Es gibt niemals genug Geschichten«. Könntest Du das vielleicht etwas präzisieren? 54stories bringt das Beste der aktuellen Literaturströmungen im Internet zusammen: die Ausdrucksfreiheit und Unabhängigkeit von Blogs, die Vielfalt von Autorenforen und die Qualitätsgarantie von Online-Literaturmagazinen. Durch die Schnittstelle, an der sich Autoren, Verlage, Blogger und Leser treffen, ist ein multidisziplinäres Netzwerk entstanden, von dem alle Beteiligten jenseits von wirtschaftlichen Interessen profitieren.
Für Leser bietet sich ein völlig risikofreier Entdeckungsraum, in dem täglich oder wöchentlich Texte in verträglicher Länge zur Verfügung gestellt und visuell ansprechend präsentiert werden. Neben der Literatur ist durch die Bebilderung auch eine Galerie interessanter Fotografien entstanden, die die Leser in die Texte hineinziehen. Für die Autoren bietet die Plattform die Chance ihre Texte einem Publikum jenseits des klassischen Literaturbetriebs vorzustellen. Besonders profitieren junge und noch unveröffentlichte Autoren von dieser Präsenz. Die namhaften Autoren und Autorinnen, die wir ebenfalls für das 54stories Projekt gewinnen konnten, lenken die Aufmerksamkeit wiederum auf die (noch) weniger bekannten Namen. Die Plattform etabliert also ein gegenseitiges System der Promotion.
Vielen Dank für das Gespräch, Tilman Winterling. lustauflesen.de wünscht dem Adventskalender von 54stories alles Gute und vor allem viele, viele begeisterte Leser. Ich jedenfalls werde jeden Morgen mit unbändiger Neugier das entsprechende Türchen aufreissen.
Das Titelbild zeigt Im Lande des Christkinds, einen Adventskalender von Ernst Richard Kepler aus dem Jahr 1905 (Quelle: Wikimedia Commons).