Jo-ho-ho! – Und ne Buddel voll Rum!
Ich suche was Schönes zum Lesen. Kannst du mir nicht einen Tipp geben? – Immer wenn diese Frage an mich gerichtet wird, empfehle ich in jüngster Zeit auch Die Schatzinsel von Robert Louis Stevensen. Natürlich ernte ich jedesmal überraschte Minen. Der Titelnennung folgt sogleich ein wichtiger Nachsatz; Die Schatzinsel von Robert Louis Stevenson neu übersetzt von Andreas Nohl in der nie genug zu lobenden Klassikerreihe des Carl Hanser Verlages.
Wie Tom Sawyer und Huckleberry Finn ruft auch Die Schatzinsel beim Leser zunächst wohlige Kindheitserinnerungen hervor; Erinnerungen an heimliche Lektüre unter der Bettdecke, an das fiebrige Miterleben exotischer Abenteuer und an Stunden, in denen die Nase tief im Buch steckt, Tage in denen alles andere um einen herum verschwindet.
Doch das ändert sich schnell, wenn in einem zweiten Schritt das Etikett Jugendbuch vorsichtig vom Umschlag abgeknibbelt wird. Denn Romane wie die Schatzinsel sind Weltliteratur, sind große und großartige Texte, die im erwachsenen Leser andere Saiten anschlagen. Es erklingen dann neue Töne, die der junge Leser nicht hören konnte. Diesen Töne verschafft Andreas Nohl mit seiner Neuübersetzung einen besonders wohlklingenden Resonanzkörper. Nohl verzichtet auf künstliche Historisierung und auf Kunstslang in der direkten Rede, vom Original abweichendes Fabulierem ist ihm fremd.
Gutsherr Trelawney, Doktor Livesey und die anderen Gentlemen haben mich gebeten, alle Einzelheiten über die Schatzinsel vom Anfnag bis zum Ende aufzuschreiben und dabei nichts auszulassen als die genaue Lage der Insel.
So beginnt sie die Geschichte von der geheimnisvollen Schatzkarte, der abenteuerlichen Seereise der Hispaniola und der Bergung der Reichtümer des Seeräubers Flint; sie ist hinlänglich bekannt, ebenso ihre Protagonisten, der junge Jim Hawkins, Long John Silver und sein Papagei, Doktor Livesey oder Käptn Smollett. Vielfach vergessen dagegen ist die Brillianz, mit der Stevenson die Geschichte erzählt, die ausgefeilte Technik seiner Prosa. Er erzählt, statt zu beschreiben, schafft Stimmung, statt zu berichten und lenkt seine Leser immer wieder zwischen die Zeilen, wo reichhaltige Details, feinsinnige Beobachtungen und weite Gefühlswelten versteckt sind.
Eine Ferienunterhaltung für den Stiefsohn Lloyd Osbourne zu finden war 1881 für Robert Louis Stevenson nur der Anlass, nicht die Ursache, Die Schatzinsel zu schreiben. Der Urlaub mit der frischangetrauten Fanny Van de Grift und ihrem Sohn in Braemar, in den schottischen Highlands, markierte einerseits den Endpunkt einer langen Suche nach privatem Glück und andererseits den Startpunkt für ein literarisches Programm. Stevenson entwickelte seine Vorstellung vom Roman, von seiner Wirkung und Gestaltung.
Stevenson hatte vor der Schatzinsel schon viel veröffentlicht, er galt in literarischen Zirkeln, in Kreisen der Begüterten und Gesättigten durch seine Essays und Reisebeschreibungen als begabter Schriftsteller. Nur die Anerkennung in der breiten Öffentlichkeit blieb ihm bislang versagt. Eine Überfahrt nach Amerika, wo er seiner Geliebte endgültig gewinnen und ihr in ihrer komplizierten Scheidung beistehen wollte, wurde zum Schlüsselerlebnis. Auf dem Auswandererdampfer geriet Stevenson in eine ihm bislang unbekannte Gesellschaft, lernte desilliusonierte Ausgestoßene kennen, deren Leben bislang nur Kampf, Trunksucht, Entbehrung, Leid und Unterdrückung gewesen war und die ihre letzte Hoffnung auf die Zukunft in Übersee setzten. Resultat war der Text The Amateur Emigrant, der erst posthum veröffentlicht wurde.
Unter den Auswanderern war auch ein alter, kranker Geiger, der mit letzter Kraft auf seinem Instrument mehr herumkratzte als spielte, damit dennoch seine Zuhörer verzauberte und sie dem muffigen, eintönigen Alltag unter Deck entriss. Diese Kraft, so Stevenson, müsste auch sein Schreiben haben, solle die Welt zu einem besseren Ort machen, die Leser dem Alltag entführen, ihnen wie der Mann mit der Geige für Augenblicke einen Glanz der Freude und des Glücks (pleasure and enjoyment) in die Augen zaubern. Drei Jahre später sagte er daz:
Es ist das Höchste und Schwierigste, was man mit Wörtern tun kann, wenn es gelingt, fesselt es den Schuljungen genauso wie den Weisen und schafft eine epische Qualität aus eigenem Recht.
Dafür geeignte schienen Stevenson nur Texte nach dem Vorbild der romances, jener populären Abenteuerromane etwa eines Walter Scott oder eines Jules Verne, der psychologische Gegenwarts- oder Gesellschaftsroman, die Paradigmen des Naturalismus oder Realismus kamen für ihn nicht in Frage.
Wirkliche Meisterwerke des Abenteuerromans sind immer mehr als nur kurze Fluchten aus dem tristen Alltag. Sie legen Tiefen des menschlichen Charakters frei, reflektieren die Bedingungen des Zusammenlebens und skizzieren das Wesen wahrer Humanität. Alles das schafft Stevensons mit seiner Schatzinsel, wie Andreas Nohl in seinem Nachwort zusammenfasst:
Die Fahrt der Hispaniola geht nicht nur auf eine exotische Insel, sondern in die Abgründe der menschlichen Seele. Es ist eine Parabel über die Geldgier, eingefasst in das schöne Kleid eines Abenteuers. (…) In Stevensens Roman – dem vollendetsten Werk seines Genres – geht es nicht um Liebe, nicht um Status, nicht um gesellschaftlichen Alltag, nicht um verlorene Illusionen. Es geht um das nackte Überleben.
Die Hanser Klassikreihe zeichnet sich, neben der bekannten, handschmeichlerischen Qualität der äußeren Buchgestaltung auch durch ihre einzigartige Editionstechnik aus; sie bietet dem Leser hochwertige Neuübersetzungen, die mühelos den Spagat zwischen Nähe zum Original und größtmöglicher Lesbarkeit bewältigen, kluge Nachworte und erhellende Beigaben. Im Fall der Schatzinsel sind dies ein in deutscher Sprache bislang unveröffentlichter Text von Stevenson selbst zur Entstehung der Schatzinsel, sowie Berichte seiner Ehefrau und seines Stiefsohnes.
Für Die Schatzinsel von Robert Louis Stevenson in der Neuübersetzung von Andreas Nohl gilt eine einfache Gleichung: wunderschöne Kindheitserinnerungen + tiefere Erkenntnisse des erwachsenen Leser = enormes Lesevergnügen. Dehalb wird diese Ausgabe auch künftig stets mitempfehlen, wenn ich gefragt werde: „Ich suche was Schönes zum Lesen. Kannst du mir nicht einen Tipp geben?“

Neu übersetzt und herausgegeben von Andreas Nohl
Im Anhang Dokumente zur Entstehungsgeschichte
Gebunden, Leinen, 384 Seiten
München: Carl Hanser Verlag 2013
Mehr Informationen zum Buch auf der Webseite des Verlages
Die Schatzinsel, vorgelesen von Harry Rowohlt, ist erschienen bei Tacheles!/ROOF.
13. November 2015 @ 11:13
Vielleicht zur Ergänzung my 2 Cent zur Neu-Übersetzung von Andreas Nohl: http://www.vigilie.de/2013/robert-louis-stevenson-die-schatzinsel/
13. November 2015 @ 11:27
Danke für die Bereicherung der Diskussion durch Ihren lesenswerten Artikel. (Auch oder gerade weil er diametraler Meinung ist.)
lg_jochen
3. Mai 2015 @ 22:20
Lieber Jochen,
darf ich – als Zugabe – auf das sehr gelungene, literarisch-musikalisch-spannend-spaßige Hörspiel aus dem Hörverlag hinweisen? Textgrundlage ist die von Dir hier besprochene Neuübersetzung von Andreas Nohl.
Hier folgt der Link zu meiner Hörspiel-Rezension:
https://leselebenszeichen.wordpress.com/2014/11/13/die-schatzinsel/
Ahoi!
26. August 2014 @ 19:58
Harr! Das nenn ich Service, wenn man spät aus dem Büro kommt.
So kann man wunderbar vergleichen und ich muss gestehen, die Nohl’sche Fassung dieses Absatzes gefällt mir in der Tat besser. Danke für diesen praktischen Vergleich! 🙂
(Wenn ich mich recht entsinne, führt Silver den Satz mehrere Male im Munde, daher war ich so frei gewesen, auf eine Stellenangabe zu verzichten.)
26. August 2014 @ 10:29
Also, wenn ich’s richtig sehe, heißt es bei Nohl:
„Du hast Recht“, sagte Silver, „rauh und rücksichtslos. Aber merk dir jetzt eins: ich bin an sich ‘n umgänglicher Mann – ich bin sonst der reinste Gentlemen, wie ihr wisst – aber diesmal ist es ernst. Pflicht is’ Pflicht, Kameraden. Ich bin für Tod. Wenn ich im Parlament sitze und in meiner Kutsche fahre, dann soll keiner von diesen Seeadvokaten aus der Kajüte ungebten zu Hause auftauchen wie der Teufel beim Gebet. Abwarten, sage ich, aber wenn die Zeit kommt, dann machen wir kurzen Prozess!“
lg_jochen
26. August 2014 @ 09:40
misch mich mal kurz ein: Kapitel 11, Was ich im Apfelfaß zu hören bekam – 1-2 Seiten vor Kapitelende
lg e.
26. August 2014 @ 09:32
Lieber doctotte,
um deine Frage beantworten zu können, wäre es nett zu wissen in welchem Kapitel der zitierte Satz steht und wie Nohl ihn übersetzt. Ich bin jetzt nicht so sattelfest im Text, dass ich das aus dem Effeff sofort finde; außerdem habe ich keine englischspr. Ausgabe zur Hand um selber zu suchen.
lg_jochen
26. August 2014 @ 07:48
Zustimmung. Der feurige Originaltext gibt wesentlich mehr Stimmung her, die Übersetzung ist bemühtes, etwas altbackenes Bühnendeutsch. Möge sich jeder seine eigene Meinung bilden:
RLS: “Right you are,” said Silver; “rough and ready. But mark you here, I’m an easy man–I’m quite the gentleman, says you; but this time it’s serious. Dooty is dooty, mates. I give my vote–death. When I’m in Parlyment and riding in my coach, I don’t want none of these sea-lawyers in the cabin a-coming home, unlooked for, like the devil at prayers. Wait is what I say; but when the time comes, why, let her rip!”
G: “Richtig” sagte Silver, ein rauer Gesell’. Aber paß auf – ich bin ein umgänglicher Mensch, ich spiel den feinen Mann heißt es, aber diesmal gilt’s ernst , Mensch. Was sein muß, muß sein. Ich bin für – Tod. Wenn ich im Parlament sitz’ und und in meiner Kutsche fahr’ will ich nicht , daß einer dieser Badegäste unerwartet zu Hause auftaucht. Zuwarten, sag’ ich, aber wenn der Augenblick gekommen ist, sollen sie dran glauben!”
Ahoi!
26. August 2014 @ 06:41
Im direkten Vergleich klingt die Grüttinger-Version in meinen Ohren etwas behäbig und deutlich weniger verschmitzt als das Original.
Für mich ist das übrigens der Schlüsselsatz für Silver; wenn ich mir vorstelle, wie er diesen Satz spricht, zaubert mir mein Hirn Silver in all seinen schillernden Facetten vors innere Auge. Diese perfekte Miniatur ins Deutsche zu übertragen, ohne unfreiwillig eine Art Flens-Werbung zu fabrizieren, ist natürlich sauschwierig.
26. August 2014 @ 06:19
Also bei Güttinger heißt es: “Was sein muß, muß sein.”
e.
25. August 2014 @ 20:45
Dein Hinweis auf die Sprache macht mich neugierig. Was macht Nohl denn aus Klassikern wie „Dooty is dooty“?
25. August 2014 @ 13:33
Sorry, hab’ den Namen verhunzt: Natürlich Andreas Nohl (blöde Automatik)
25. August 2014 @ 14:35
Ja, das ist die immerwährende Crux bei Übersetzungen. 100% geht eben nicht, leider. Da bleibt letztlich nur der Griff zum Original. Die Übertragung von Güttinger kenne ich leider nicht, wäre also etwas für meine Wunschliste. Was ich aber nach einzelnen Stichproben durchaus bestätigen kann, ist die sehr geschmeidige direkte Rede bei Nohl (wie auch schon bei Tom Sawyer und Huck Finn). Da kommt er dem Original erfreulich nah. Einzelne Haare in der Suppe gibt es natürlich, im großen Ganzen kann ich Nohls Übertragung dennoch nachhaltig empfehlen. lg_jochen
25. August 2014 @ 13:32
Danke für die interessante Besprechung,
sicherlich ist die Sprache von Andreas Hohl zeitgemäßer und flauschiger. Allerdings, wenn ich mir den ersten Satz so ansehe, fehlt mir doch etwas (Leider kenne ich momentan nur diesen von der Neuübersetzung)
Im Orginal:
“SQUIRE TRELAWNEY, Dr. Livesey, and the rest of these gentlemen having asked me to write down the whole particulars about Treasure Island, from the beginning to the end, keeping nothing back but the bearings of the island, and that only because there is still treasure not yet lifted.”
Da trifft es die Übersetzung von Fritz Güttinger, (Manesse 1971/2006) doch etwas genauer – klingt dafür aber auch etwas holpriger.
Trotzdem freue ich mich als alter RLS – Fan über die Neuausgabe und werde auch diese meiner Sammlung hinzufügen.
Denn wie sagte schon ein Kakuzo Okakuro im “Das Buch vom Tee”: “Eine Übersetzung ist immer eine Vergewaltigung, und auch die beste kann, wie ein Schriftsteller der Ming-Zeit meint, nur wie die Rückseite eines Brokats wirken. Die Fäden sind wohl alle da, nicht aber die Feinheit von Farbe und Muster”.
In diesem Sinne
lg e.