Menschheitsdämmerung – Zeugnis einer zerrissenen Generation
Weltende
Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei.
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei,
Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.(Jakob von Hoddis)
Dies Gedicht eröffnet die Anthologie Menschheitsdämmerung. Der Schriftsteller und Journalist Kurt Pinthus hat sie 1919 veröffentlicht, zunächst in einem Kleinverlag dann, ein Jahr später, bei Rowohlt. „Symphonie jüngster Dichtung“ lautet zunächst der Untertitel, 40 Jahre später, bei der Neuausgabe 1959, ändert Pinthus ihn zu „Ein Dokument des Expressionismus“.
Für mich ist diese Gedichtsammlung augenblicklich wieder sehr aktuell; weniger als lebendiges Dokument des Lyrischen Expressionismus, da ist sie ohnehin nahezu konkurrenzlos, sondern mehr als das Zeugnis einer zerrissenen Generation, die vor 100 Jahren die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts erleben und durchleben musste, den Ersten Weltkrieg.
Auf den zahlreichen Bücherlisten zum Thema „100 Jahre Erster Weltkrieg“ erscheint die Menschheitsdämmerung selten. Doch für mich gebührt ihr dort ein fester Platz. Pinthus‘ Anthologie ist nicht nur literarisch, sondern auch historisch wertvoll. Sie ist ein zeitgeschichtliches Dokument.
Dies Buch ist eine Sammlung der Erschütterungen und Leidenschaften. Sammlung von Sehnsucht, Glück und Qual einer Epoche – unserer Epoche. Es ist die gesammelte Projektion menschlicher Bewegung aus der Zeit in die Zeit. Es zeigt schäumende, chaotische, berstende Totalität.
Das schreibt Pinthus 1919 in seinem Vorwort und blickt dabei absichtsvoll auch auf die Schlachtfelder des großen Krieges, auf denen Millionen junger Männer niedergemetzelt wurden; unter ihnen auch vier Autoren, die in der Sammlung vertreten sind. Menschheitsdämmerung war damals ein explosives Pionierwerk, ein avantgardistisches Experiment. Heute, in der 34. Auflage mit insgesamt über 200 Tausend Exemplaren und 95 Jahre älter, ist die Anthologie ein Spiegel, in dem Bild und Zerrbild dieser bedeutenden Epoche aufscheinen, die unsere deustche und die europäische Geschichte so entscheidend geprägt hat.
Genau genommen hat die von Kurt Pinthus zusammengestellte Menschheitsdämmerung ihren außerordentlichen Status eines Zeitdokumentes bereits 1959 erreicht, also 40 Jahre nach der ersten Veröffentlichung. Nazideutschland hatte alle Lehren aus dem Ersten Weltkrieg und den Aufbruchsjahren der Weimarer Republik in den Wind geschlagen und die Welt in einen zweiten großen Krieg gestürzt. Wieder galt es, Trümmer fortzuräumen und nach großer Desillusion einen Neustart vorzunehmen. Viele der Dichter der Menschheitämmerung waren längst vergessen, Pinthus‘ Sammlung selbst war 1933 bei der Bücherverbrennung in den Flammen der Barbarei gelandet. Mit der unveränderten Neuausgabe wollte Pinthus eine Brücke schlagen von einer Nachkriegszeit zur anderen. Wohlwissend wie befruchtend der Austausch zwischen den Dichtern, den jeweiligen Stimmen der Jugend und des Aufbruchs, wirkt, schrieb Pinthus 1959:
Als ich diese Dichter damals einen Zug von sehnsüchtigen Verdammten nannte, wußte ich nicht, wie sehr diese symbolische Charakterisierung zu grausiger Realität werden sollte. Der Leser wird, erschüttert, zugleich bewundern, daß all diese Dichter auch an der Front des ersten Weltkrieges, in Heimatlosigkeit und Verzweiflung, in Krankheit und Elend immer weiter schrieben und dichteten.
100 Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges gilt das immer noch. Die vier Kapitel der Sammlung, „Sturz und Schrei“, „Erweckung des Herzens“, „Aufruhr und Empörung“ und „Liebe den Menschen“ vermitteln das Lebensgefühl einer jungen Generation, das geprägt war von Aufbruch und Zukunftshoffnung und das, irregleitet von Überschwang und Hurrapatriotismus, selbst in den Schützengräben nicht vollständig verschüttet wurde.
Patrouille
Die Steine feinden
Fenster grinst Verrat
Äste würgen
Berge Sträucher blättern raschlig
Gellen
Tod(August Stramm)
Ruhe und Schweigen
Hirten begruben die Sonne im kahlen Wald.
Ein Fischer zog
In härenem Netz den Mond aus frierendem Weiher.In blauem Kristall
Wohnt der bleiche Mensch, die Wang‘ an seine Sterne gelehnt;
Oder er neigt das Haupt in purpurnem Schlaf.Doch immer rührt der schwarze Flug der Vögel
Den Schauenden, das Heilige blauer Blumen,
Denkt die nahe Stille Vergessenes, erloschene Engel.Wieder nachtet die Stirne in mondenem Gestein;
Ein strahlender Jüngling
Erscheint die Schwester in Herbst und schwarzer Verwesung.(Georg Trakl)
Bei vielen Lesern steht die Menschheitsdämmerung mit Sicherheit im Bücherregal und wird wenig beachtet. Doch es ist angebracht, das Bändchen wieder hervorzuholen. Meine vergilbte und zerfledderte Ausgabe, Jahrgang 1982, ist mir (wieder) zum treuen Begleiter geworden, während ich gleichzeitig andere, wichtige und gewichtige, Bücher über den Ersten Weltkrieg, seine Ursachen und seine Wirkungen gelesen habe.
Die in dieser Anthologie versammelten Texte entsprangen damals junger, später alter oder (nicht nur im übertragenen Sinne) toter Stimmen. Doch der Nachhall dieser Stimmen ist nach wie vor zu vernehmen und er ist sehr hörenswert. Die fernen Klänge berichten von Zerissenheit, vom Schwanken zwischen Hoffnung und Enttäuschung, vom Grenzbereich zwischen Leben und Tod; die fernen Klänge vereinen sich zu einer lyrisch-historischen Symphonie. Wer die Menschheitsdämmerung noch nicht kennt und/oder besitzt, sollte umgehend die knapp 10€ in das Buch investieren, denn diese Anlage bringt reichlich Zinsen.
Ein Dokument des Expressionismus
Neu herausgegeben von Kurt Pinthus
Broschur, 384 Seiten
Reinbek: rororo 1959 (34. Aufl. 2006)
Foto: Kurt Pinthus von Unbekannt (um 1920) – Quelle: Wikimedia Commons