Skizzen zu einem finsteren Bild der Seele – Sonnenspiegelungen von Jan Costin Wagner
Achtmal erzählt Jan Costin Wagner in Sonnenspiegelung von Menschen im Ausnahmezustand. Dabei zeichnet er filigrane Miniaturen, die in tiefe Seelen- und Gewissensabgründe schauen lassen. Jan Costin Wagner ist bekannt für seine zurecht hochgelobte Krimireihe um den finnischen Ermittler Kimmo Joentaa (»Die besten skandinavischen Kriminalromane schreibt ein Deutscher«, urteilte der Tagespiegel). Wagner interessiert nicht das »Who done it«, nicht der klassische Thrill oder die oberflächliche Gewalt, er durchbohrt seine Plotebenen, blickt unter die Oberfläche und forscht nach Motivationen, nach Abhängigkeiten und spürt den großen Gefühlen nach.
Schuld, Angst und der allgegenwärtige Tod manövrieren Menschen an den Rand der Ohnmacht. Handlungsunfähig zu sein und dennoch handeln zu müssen (und zu können), in diesen psychologisch schmerzhaften Spagat zwingt Wagner seine Figuren immer und immer wieder. Nichts ist zermürbender als zwanghaft, Auswege in der Ausweglosigkeit zu suchen.

An dieser Stelle den Inhalt der Geschichten wiederzugeben, wäre zutiefst unfair. Nur so viel: es geht um einen Verlust, um einen unheimlichen Beobachter, um vier Pistolenschüsse am Weihnachtsabend, um Geld und Bewegungen im Mikro- und Makrokosmos, um Missbrauch und Vergeltung, um einen verzweifelten Mann und einen Zug, um verbrecherische Kindesliebe und um einen Autounfall in der Nacht. Einige der Texte erschienen zuvor bereits in Zeitschriften und Anthologien, Wagner hat sie »für die Gesamtkonzeption des vorliegenden Bandes (…) überarbeitet«.
Exakte Lokalisierung, weitgespannte Handlungsbögen, Einblicke in große Welten sucht der Leser hier vergebens. Extrem engt Wagner Ort und Zeit ein und begrenzt die Sicht auf kleine Ausschnitte. Alles scheint in einem uns sehr vertrautem Alltag verankert zu sein. Doch in jeder Skizze lauert der Nukleus einer kriminellen Handlung, eines Verbrechens. Wagner stellt seine Figuren in Situationen, die berückend sind in ihrer Kargheit. Die Ereignisse werden aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet und mehrstimmig erzählt und kommentiert. So beginnen sie vielfarbig zu schillern. Über die Handelnden zu urteilen und ihre Handlungen zu bewerten, überlässt der Erzähler ausschließlich dem Leser, das fasziniert und fordert.
Angst und Zorn, Schweiß und Tränen, Schuld und Sühne, die großen Emotionen eines klassischen Kriminalromans, verstaut Wagner zwischen die Zeilen. Hier wird der Leser in die Falle gelockt. Wagner raubt dem Genre die hinlänglich bekannten Versatzstücke und führt es so auf eine höhere, eine sehr literarische Stufe. Gedanken- und Gefühlswelten sind ihm wichtiger als die spannende Krimihandlung allein. Wagner findet für Menschen in Extremsituationen eine passende sprachliche Ausdrucksform und schafft dadurch intime Momente des Verstehens. Seine Stil ist knapp und treffend. Meist reichen nur wenige Worte, um Situationen treffend zu umreissen und den Leser zu bannen. Nüchtern und sachlich, beinahe im Stil eines Protokolls, kommt der Text daher. Die Dialoge sind kurz gehalten, alltagsnah, von überflüssigem Ballast befreit und treffen doch immer den richtigen, der Situation adäquaten Umgangston. Sie sind psychologisch aufgeladen, feinnervig, aber niemals trivial.
Betrachtet man Wagners Krimis als große Gemälde, so gewährt er mit Sonnenspiegelung Einblicke in sein Skizzenbuch. Locker hingetuscht wirken die Geschichten, mit wenigen Strichen werden Figuren und Orte umrissen, doch gerade in der Konzentration auf die wsentlichsten Details wirken sie besonders stark. Das alltägliche Leben, die Beziehungen in Familien und Freundeskreisen, das vermeintlich Banale wird desavouiert, alles, was scheinbar gut funktioniert, erweist sich als Balanceakt ohne Netz und doppelten Boden. Unten lauert der dunkle Abgrund.
Vereinzelt ist die überraschende Wendung, die allen Geschichten am Ende den Twist ins unausweichliche Dunkel verpasst, etwas vorhersehbar und wenig überraschend. Ab er das macht nichts. Denn der eigentliche Wert dieser Miniaturen liegt in ihren glänzenden, sprachlichen Feinheiten, die die innere Unruhe der Figuren offenbaren und gleichzeitig ins Rätselhafte führen. Wagner kriecht tief hinein in verwinkelte und dunkle Seelenecken seiner einsamen und verletzten Figuren. Letztlich geht es um Angst, die existentielle Angst vor Verlust, Schmerz und Tod.
Bei der letzten Erzählung in Sonnenspiegelung handelt es sich um eine frühe Figurenstudie zum Roman Tage des letzten Schnees, dem jüngsten (und vielleicht besten) Band der inzwischen fünfteiligen Kimmo-Joentaa-Reihe. Ein Blick in die Werkstatt des Autors also und gleichzeitig ein überzeugender Teaser für Wagners großartige (Kriminal)Romane. Nicht nur Kaffeehaussitzer Uwe Kalkowski zeigte sich begeistert. Auf zehnseiten.de liest Jan Costin Wagner aus seinem Roman und auf seiner Autorenwebseite gibt es auch Hörproben seiner musikalischen Werke.