merk=würdig (V) – 100 Bücher und ein voller Himmel
Für die Reihe merk=würdig ziehe ich alte geliebte Bücher aus dem Regal. Heute dreht sich alles um ein altes Suhrkamp-Bändchen, einen Essay von Eckhard Henscheid, um den Kanon, seine Sinnhaftigkeit und um Wege in das Paradies der Bücher. Das interessiert nicht? Na, dann abschalten, es kommt nichts anderes. Noch da? Schön!
Vorbemerkung Nr. 1 (lexikalisch): Kanon, der; (bildungssprachlich) Richtschnur, Leitfaden für jemandes Verhalten. Auch: Liste mustergültiger Autoren und Werke.
Vorbemerkung 2 (privatim): Dies ist ein spezieller Fall, denn meine erste Buchbesprechung überhaupt verfasste ich zu ZEIT-Bibliothek der 100 Bücher. 1980 war das, für die zwar auflagenstarke, aber doch wenig gelesene Schülerzeitung des Bergstadtgymnasiums Lüdenscheid.
Der Himmel ist immer schon voll
Ganz hinten in der Bibel, »Mein Lieblingsbuch, Sie werden lachen!« bekannte Bertolt Brecht, findet sich die Offenbarung des Johannes. Darin wird in düsteren Farben ausgemalt wie die Welt untergeht, Armageddon, Armageddon, und wir alle vors Jüngste Gericht zitiert werden. Auch Eckhard Henscheid kennt seine Bibel und stöhnte kürzlich in der Literarischen Welt: »Der Himmel ist immer schon voll«.
Der am dialektischen Humor T.W. Adornos und M. Horkheimers geschulte Schriftsteller und einer der Gründungsväter der Neuen Frankfurter Schule macht sich Gedanken über den Kanon (und einiges mehr). Diese Listen zum sakrosankten Bestand der Weltliteratur, so Henscheid, sind wie der vor allem auf die Offenbarung 7,4 zurückgeführte »in mancherlei christlichen Spezialsektionen und namentlich bei den Zeugen Jehovas vernehmliche befehlsartige Befund«, dass lediglich 144.000 Seelen am Ende errettet werden, das hätten »die allerkundigsten Exegeten nämlich vor dem Hintergrund der einstigen Stämme Israels pfeilgrad herausgelesen«. Die Auserwählten paradieren fröhlich ins Paradies, dann wird die Pforte verrammelt für immer.
Der Himmel ist voll, basta! Und der literarische Kanon? Das Nobelinstitut in Stockholm wagte sich 2002 an eine Art »Jüngstes Gericht der Weltliteratur« und hat einhundert Schriftsteller aus vierundfünfzig Ländern, darunter überaus bekannte Großautoren und zahlreiche Nobelpreisträger, gefragt, was ihrer Ansicht nach die besten und bedeutendsten Werke der Weltliteratur sind. Heraus kam eine Liste mit einhundert Titeln, alphabetisch sortiert. Nur der Sieger wurde separat genannt. Die meisten Stimmen bekam Don Quijote, gefolgt von Prousts La Recherche mit nur halb sovielen Voten. Hier die Liste der 100 als PDF.
Mit vermeintlichen Meisterwerken des 17. oder 18. Jahrhunderts ist der Himmel bereits halb gefüllt, greift man dann noch zu einigen Schwarten des 19. Jahrhunderts, wird es bereits sehr eng und nur noch vereinzelt erhalten Nachrücker aus dem vergangenen Jahrhundert die Chance auf den Einzug ins Paradies. Nicht nur Henscheid fragt sich da: Warum bloß sollte ausgerechnet Don Quijote das beste Buch der Welt sein?
Henscheid stellt erst einmal dahin, »ob die Exklusivität des jeweiligen Himmels von irgendeinem bibelarchaischen Über-Ich verordnet wäre oder ganz banal aus der alles überragenden Denkunlust des trägen Homo sapiens herrührt«. Bei jedem Ranking (und ganz besonders bei allen die Künste betreffenden) steht für ihn felsenfest, »dass alles so und so mit der begrenzten Synapsenenergie des Menschengehirns zusammenhängt«. Auf gut deutsch: es findet sich entweder das, was sich ohnehin von selbst versteht, oder aber obskure (und dümmliche) Abweichungen, mit denen im eigenen Leseleben nichts anzufangen ist.
Sollten, ja müssen wir dem Kanon also ein für alle mal entsagen? Als verbindlichem Maßstab ja, meine ich, aber als Reibungsfläche fürs wache Intellekt versehen Ranglisten durchaus gute Dienste. Ich lege hier den Essay von Henscheid beiseite und ziehe aus dem Bücherregal die alte, schon kräftig vergilbte ZEIT-Bibliothek der 100 Bücher. Wie gesagt, ein Buch das merk=würdig ist.
100 Bücher sind (k)ein Kanon
»Man hat uns das Lesen nicht beigebracht!« – dieser Stoßseufzer der jungen Generation veranlasste dereinst die Feuilletonredaktion der ZEIT Woche für Woche ein bedeutendes, bleibendes Werk der Weltliteratur vorzustellen. Eine sechsköpfige Jury, hochkarätig besetzt, sorgte für die Auswahl und lud namhafte Autoren ein, über die gewählten Bücher zu schreiben. So einfach die Regeln, so schwierig und komplex das Spiel. Jeder Kanon ist unvollständig, mit welchen löblichen Absichten und gut gemeinten Prämissen er auch zusammengestellt wird. Gegen jedes Buch einer Liste lässt sich trefflich argumentieren und der Liste als Ganzes eine beliebige Reihe von Alternativlisten entgegensetzen.
Versteht sich die ZEIT-Liste aber überhaupt als ein von einem »bibelarchaischen Über-Ich« verordneter Himmel, wie Henscheid ihn postuliert? Ja, wenn ich ehrfurchtsvoll und eingeschüchert die ausgewählten Titel als gesetzt betrachte. Nein, wenn ich lediglich die (rezensierenden) Autoren und ihre Positionen schätze, ihre jeweils auf wenige Seiten konzentrierten, privaten Lektüreerinnerungen, die Plädoyers für und wider die besprochenen Werke, wenn ich diesen Prozess nicht als Jüngstes Gericht betrachte, sondern als offene Verhandlung ohne abschließendes Urteil darüber, wer in den Himmel darf und wer nicht. Ich spaziere dann in einen Steinbruch, nicht in ein fertiges Weltgebäude.
Literatur und Enthusiasmus
Roger Willemsen, der eloquente, gebildete, humorvolle und leider viel zu früh verstorbene Journalist und Moderator, bekannte in einem Gespräch mit Jörg Thaddeuz*, sich seinen Literaturkosmos nie entlang am Kanon erschlossen zu haben. Seine Methode der Aneignung sei der Enthusiasmus, sich entflammen und begeistern zu lassen und Fundamente auf nicht vorhersbestimmten Wegen zu finden.
Angetrieben von der Begeisterung (auch der anderer) die Literaturgeschichte mäandernd zu durchwandern, sich von Buch zu Buch, von Autor zu Autor zu hangeln, sei fruchtbarer als der (vermeintlich gradlinige) Weg über den Kanon. Sein Lesefleiß und seine Entdeckungslust, so Willemsen, seien unfüllbar in dem Moment, wo er mit Enthusiasmus in die Literaturgeschichte gehe, dauernd wie in der Architektur sage, Gott, was für Räume, was für Ausstattungen, was für Bordüren, was für Bilder an den Wänden. Da tauche er mit einem Kopfsprung hinein und fühle sich wohl ernährt.
Was hindert uns Leser am Kopfsprung, was, Listen wie die der Zeit fortzuschreiben, einfach andere Bücher eines der gelisteten Autoren zu lesen oder bestimmte Titel komplett zu ignorieren? Wenn Neugier und Enthusiasmus siegen, dann lassen wir uns begeistern und niemals einschüchtern. Der Kanon mutiert vom furchteinflößenden und lächerlichen Gesetz zum hilfreichen Werkzeug, wird zur Wittgensteinschen Leiter, an der man hochklettert, um sie dann wegzustoßen und auf eigenen Pfaden weiterzusteigen? Der Leser aus Leidenschaft muss sich lediglich eine Startlinie ziehen, der Zielstrich liegt unsichtbar in weiter Ferne, irgendwo, und ist nicht wichtig. (Für das professionelle Lesen freilich gelten leicht verschobene Prämissen, aber das ist eine andere Geschichte und soll ein anderes mal erzählt werden.)
Der Kanon lebt allenfalls vom Gebrauchswert. Die Konsequenz aus dem Dauerstreit um das Recht und die Möglichkeit »des Kanonischen« lautet, dass das Kriterium des künstlerischen Rangs nicht brauchbar ist. »Jeder Versuch nämlich, einen Katalog des Ästhetischen zu präsentieren, wäre von vorneherein zum Scheitern verurteilt«, schreiben die Herausgeber im Vorwort von Die Leseliste, »weil es der Selektion an konsensfähigen Normen fehlen müßte – in allzu vielen Fällen ließen sich die Entscheidungen mit stichhaltigen Gründen diskretitieren.«
Ich mag sie, die Listen aus dem Reclam Verlag oder von der ZEIT. Sie sind ein Angebot zum freien Gebrauch. Hier finde ich Bücher, die ich kennen darf, vielleicht auch kennen sollte, nicht aber zwingend kennen muss. Aus einem sicheren und bequemen Basislager heraus, greife ich die Vielzahl der umliegenden Gipfel an. Hier markiere ich meinen Startpunkt, eine Zielvorgabe brauche ich nicht. Die Freiheit des Lesens ist grenzenlos …
Ein kultivierter Mensch muss nicht alle Bücher durchgesehen haben. (René Descartes)
Aber …
Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? (Franz Kafka)
Herausgegeben von Fritz J. Raddatz
Broschur, 453 Seiten
Frankfurt/M.: Suhrkamp 1980 (=Suhrkamp Taschenbuch Nr. 645)
Leider nur noch antiquarisch erhältlich.
Lust auf (noch mehr) Listen? – Einige Links zum Stöbern
Auch Kaffeehaussitzer Uwe Kalkowski schätzt die ZEIT-Bibliothek der 100 Bücher als Fundgebiet für Textbausteine. Und wer noch etwas weiter abschweifen möchte, ohne den Kanon ganz aus dem Auge zu verlieren, lese den schönen Text von Jochen Jung, Verleger bei Jung & Jung. Was, mit Verlaub ist ein Klassiker?
Auf Anregung von Jan Drees / lesenmitlinks habe ich angeschafft, aber noch nicht genauer evaluiert: Hermann Hesse, Eine Bibliothek der Weltliteratur (Reclam Verlag).
An vielen Universitäten geben Fachbereiche ihren Studierenden annotierte Leselisten an die Hand. Ich greife willkürlich heraus die von der Universität Saarland, Fachrichtung Germanistik (PDF) und von den Germanisten der Uni Würzburg (PDF). Die Suchanfrage »leseliste Literaturwissenschaft pdf« spuckt viele weitere Ergebnisse aus.
*) Das Video zum Gespräch mit Roger Willemsen in der rbb-Mediathek (verfügbar bis zum 9. Februar 2017).