Wo der Kommunismus funktioniert – Ab in den Wald!
Stellen Sie sich vor, Ihnen begegnet in freier Wildbahn eine Herde Elefanten. Wären Sie überwältigt vom Anblick der majestätischen Tiere? Genau so können Sie sich in einem stinknormalen, gesunden Wald fühlen, sagt Peter Wohlleben. Seine Idee überzeugt ohne Ökokitsch, dafür mit packenden Tatsachen.
Der Wald ist viel mehr als die Summe seiner Bäume. Er ist eine große soziale Gemeinschaft. In ihr nimmt Jeder auf Jeden Rücksicht. Der Einzelne zählt hier nichts. Die Bäume tauschen Botschaften aus über ein Internet aus Pilzfäden im Boden, oder sie warnen sich vor Fressfeinden, indem sie Duftsto e in die Luft senden. Sie füttern sich gegenseitig über ihre Wurzeln, stützen die Schwachen, erziehen ihren Nachwuchs und halten selbst die Wurzelstümpfe abgestorbener Vorfahren mit Nahrung am Leben. Wenn ein Baum mehr Zucker produziert als er selbst benötigt, gibt er diesen ab. Der Wald, sagt Peter Wohlleben, ist der einzige Ort, an dem Kommunismus wirklich funktioniert. Die einzige Bedingung lautet: Der Wald muss intakt sein.
Das gilt allerdings nur für zwei Prozent der deutschen Wälder. Alle anderen sind Plantagen, Nutzwälder, tote Monokulturen, die der Mensch angelegt hat, um aus Holz Kapital zu schlagen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Diese Erkenntnis erschreckt zunächst, liebt doch der Deutsche seinen Wald heiß und innig. Er ist ihm Sehnsuchtsort und heimliche Bedrohung gleichermaßen, Ursprung der grünen Bewegung und Schauplatz dunkler Märchen. Ist davon nur noch Totholz übrig?
Wohlleben zeichnet keine Horroszenarien sterbender Wälder, im Gegenteil. Er macht Mut, sich dem Wald in seiner ursprünglichen Form wieder zuzuwenden und ihn zu erhalten. Retten aber können wir nur Lebewesen, die wir verstehen und denen wir Empathie entgegenbringen.
Viele der ausgebreiteten Fakten sind seit langem bekannt. Dass Bäume miteinander kommunizieren, entschlüsselten Wissenschaftler zum Beispiel vor mehr als 40 Jahren. Doch staubtrockene, objektive Wissenschaft ist weder allgemeinverständlich noch klingt sie sexy. Deshalb setzt Wohlleben auf Emotion. Er referiert keine biochemischen Prozesse, er vermenschlicht die Bäume. Sie sprechen miteinander, sie säugen ihre Kinder, sie sind wagemutig oder ängstlich, sie erinnern sich. Überspitzt formuliert: Bäume sind Leute wie du und ich.
Erst wenn eine Geschichte berührt, ist sie packend erzählt. Genau das gelingt Wohlleben. Und weil ihn das komplexe Leben im Wald immer wieder selbst verblüfft und er den Leser seine Überraschung darüber spüren lässt, wird das Buch zum mitreißenden Leseabenteuer. Esoterischer Quatsch und Ökokitsch sind Wohlleben fremd. Der Mann ist Förster. Mit Bäumen zu sprechen hält er für totalen Blödsinn. Ganz und gar nicht blödsinnig ist aber, was wir uns von Bäumen abschauen können: ihre uneingeschränkte Solidarität. In 20 bis 30 Jahren werden wir anders mit den Bäumen umgehen als heute, prognostiziert Wohlleben. Bäume sind mehr als totes Nutzholz und Rohsto für Bretter oder Toilettenpapier. Auch künftig wird man Bäume fällen dürfen, sagt er, aber in einer nachhaltigen, respektvollen Forstwirtschaft.
Den Umgang mit Tieren hat der Mensch längst überdacht. Er unterzieht die Massentierhaltung kritischen Prüfungen. Warum nicht auch über den Nutzraum Wald anders nachdenken? Was würde passieren, wenn morgen der Waldspaziergänger Bäume betrachtet wie Tiere – zum Beispiel wie alte Elefanten? Was, wenn er ihnen mit Empathie und Ehrfurcht gegenüberstehen könnte? Zu diesem Gedankenspiel fordert Wohlleben heraus. Es lohnt sich, mitzuspielen. Beim Lesen und beim nächsten Waldspaziergang.
Was sie fühlen, wie sie kommunizieren – die Entdeckung einer verborgenen Welt
Gebunden, 224 Seiten
Frankfurt/M.: Büchergilde Gutenberg 2016
Exclusive Ausgabe für Mitglieder
Dieser Text wurde zuerst im Magazin der Büchergilde Gutenberg für das 3. Quartal 2016 abgedruckt. (Hier das Magazin als PDF zum Download.) Seit mehr als 90 Jahren ist die Büchergilde dem schönen Buch und der Buchkultur verpflichtet. Sie hat in den zurückliegenden Jahren einen schwierigen und zum Teil schmerzhaften Transformationsprozess durchlaufen, an dessen Ende ein Neustart als Genossenschaft gewagt wurde. Neu fokussiert wurde das bereits im Gründungsjahr 1924 in Leipzig anvisierte Ziel, den Mitgliedern » … inhaltlich gute Bücher in technisch vollendeter Ausführung und nicht alltäglicher Ausstattung zugänglich zu machen«. Tradition verpflichtet. Ein Blick ins Programm der Büchergilde lohnt sich, eine Mitgliedschaft sowieso. Alle nötigen Informationen finden sich unter büchergilde.de.
Die Originalausgabe des erfogreichen Sachbuch-Bestsellers ist 2015 im Ludwig Verlag erschienen: Peter Wohlleben Das geheime Leben der Bäume (Verlagsseite).