100 Jahre Arno Schmidt (III) – Zettel wohlfeil
Noch einmal Arno Schmidt zum 100. Zettel’s Traum ist, solange der Vorrat reicht, derzeit zum Sonderpreis wohlfeil zu erwerben. Es handelt sich um die Studienausgabe der gesetzten Fassung des Schmidtschen Opus magnum aus der Reihe der Bargfelder Ausgabe. Vier broschierte Bände im Schuber laden ein zu extensiver Lektüre. Und für alle, die das Buch nicht nur als (ungelesenes) Prunkstück für den Coffee Table erwerben möchten habe ich hier einige Gedanken zum Zettel zusammgefasst. Was folgt ist ein Mashup aus mehreren, älteren Artikeln, die in früheren Versionen von lustauflesen.de bereits veröffentlicht wurden. (Achtung es folgt ein längerer Text!)
Immerhin wird sich das Buch vermutlich nicht setzen lassen, sondern – das MaschinenManuskript wird fotomechanisch vervielfältigt werden müssen. Wir haben noch keine SetzerGeneration herangezogen, die Etyms gewohnt wären.
So befand Arno Schmidt nach Beendigung der Arbeit an Zettel‘s Traum. Nicht daß Schmidt ZT (und die noch folgenden Typoskript-Romane) nicht hätte gesetzt sehen wollte, es war damals einfach nicht zu stemmen. Spätestens im Rahmen der Bargfelder Ausgabe sollte das, so der Beschluss der Herausgeber 1984, geändert werden. Der ursprüngliche Editionsplan sah das Jahr 1995 als möglichen Abschluß des Erscheinens des gesetzten Spätwerkes vor; daraus wurde nix, aber auch rein gar nix. Julia, Abend mit Goldrand und Die Schule der Atheisten kamen bereits mit Verspätungen; und Zettel’s Traum sträubte sich bis zum Jahr 2010. Die Arbeit übernommen hat 1988 Friedrich Forssman; in der Abschlußarbeit seines Grafik-Design-Studiums in Darmstadt und Mainz hatte er beispielhaft vorgeführt und begründet, wie sich das Schmidtsche Alterswerk sehr wohl gestalterisch bändigen läßt.
Wie alle Bände der Bargfelder Ausgabe liegt auch Zettel’s Traum in drei unterschiedlichen Ausgaben vor. Die edle und teure Sammleredition in Halbpergament und Leder gebunden, die Standardausgabe im bekannten, braunen Leineneinband und die Studienausgabe in vier broschierten Einzelbänden. Letztere gibt es zum 100. Geburtstag von Arno Schmidt als Geschenk für seine Leser befristet zum wohlfeilen Sonderpreis von 100,00 Euro.
Mit einer Nachbemerkung v. Arno Schmidt.
Hrsg. u. mit einem editorischen Bericht versehen von Susanne Fischer u. Bernd Rauschenbach.
Typographie und Satz: Friedrich Forssmann in Zusammenarbeit mit Günter Jürgensmeier.
Vier Bände im Schuber. Zus. ca. 1530 Seiten, 25 x 34 cm
Berlin: Suhrkamp 2010
Mit einem schön gestalteten Verlagsprospekt hat 2010 die Arno Schmidt Stiftung den Abschluß der Setzarbeiten gefeiert. Nicht nur Neulingen sei dieses Heftchen als Begleitung zu Zettel’s Traum empfohlen.
Die Einleitung fragt: „Was stünde nicht alles in Zettel‘s Traum?“ Es folgen einige Anmerkungen zum Buch von Arno Schmidt, ursprünglich verfasst für die Hörfunksendung „Vorläufiges zu Zettel‘s Traum“. Dann wird jedem der 8 Bücher von ZT jeweils eine Seite gewidmet: kurz skizziert Susanne Fischer hier Inhalt und Hauptdiskussionslinien der entsprechenden Kapitel, garniert mit Zitateinsprengseln. Anschließend werden einige Briefstellen von Arno und Alice Schmidt zu ZT abgedruckt. Friedrich Forssman steuert erhellende Erklärungen zur langwierigen und überaus schwierigen Arbeit am Satz des eigentlich unsetzbaren Buches bei, und zwei Doppelseiten stellen dann beispielhaft einen Ausschnitt aus ZT in der Fassung der Erstausgabe und im Neusatz gegenüber. Garniert wird das ganze mit mehreren (zum Teil doppelseitigen) Fotos, die Schmidts überbordende Zettelkästen zeigen. Der Prospekt ist auch als PDF-Download verfügbar.
Ein (noch) ausführlicherer Werkstattbericht zum Neusatz kann auf den Webseiten der Arno Schmidt Stiftung eingesehen werden: „Warum dauert das denn so lange?“ von Friedrich Forssman. Und neun Seiten aus der gesetzten Fassung mit Kommentaren und zwei Reproduktionen aus dem Typoskript lassen sich in einer weiteren kleinen Broschüre herunterladen. Lesenswert ist auch Forssmans (seinerzeit kontrovers diskutierte und heftig angefeindete) Aufsatz „Warum es Arno Schmidts Texte nicht als E-Book gibt“ für das Logbuch vom Suhrkamp Verlag, mit einer Replik versehen von Volker Oppmann: „Warum das eBook Arno Schmidt braucht“.
Hat sich der immense, schweißtreibende und zeitraubende Aufwand nun gelohnt? Ja, er hat. Natürlich kann und will der Neusatz das Faksimilie nicht eins zu eins abbilden oder ersetzen. Bereits bei ersten flüchtigen Vergleichen fallen deutliche Eingriffe ins Blockschema auf oder Zeilenverschiebungen. (Da hat es im Kreise der Schmidt-Forscher und -Leser schon einige Diskussionen, mitunter auch Streitigkeiten gegeben, und es wird sie auch künftig noch geben. Doch sind die nicht das Salz in der Suppe?) Auch die unmittelbare Nähe zum Schreibprozess (was ein nicht unbeträchtlicher Reiz der FaksimileAusgaben war) geht im Neusatz natürlich verloren: handschriftliche Ergänzungen Streichungen und Korrekturen sind als solche nicht mehr unmittelbar kenntlich.
Doch der Lesefluss ist im Neusatz erfreulich flotter und auch das handlichere Format haben die Lust auf eine Neulektüre deutlich gesteigert. Man kann Seiten erheblich schneller überfliegen, kursiv lesen und sich so die „schönen Stellen“ herauspicken, wie Bernd Rauschenbach gerne sagt.
Ist Zettels‘ Traum nun lesbar? Schwer zu sagen. Auf alle Fälle ist das Buch nun einfacher zu lesen. Die saftigen, prallen Erzählstücke (ja, davon sind viele in Zettel’s Traum versteckt) sind zugänglicher und können leichter gefunden werden in den zum Teil bleiernen Interpretations- und Ausschweifungswüsten zu Edgar Allen Poe.
Zeit für ein paar allgemeine Anmerkungen zum Buch. (Die folgende Textpassage wurde bereits im August 2005 für lustauflesen.de geschrieben.)
Für seine Fangemeinde war Arno Schmidt schon zu Lebzeiten ein Mythos, der große Schweiger, der Einsame, der Solipzist in der Lüneburger Heide. In Bargfeld, wo er nach Kriegswirren, Flucht und Nachkriegschaos, endlich seßhaft wurde, unterwarf er seinen gesamten Lebensalltag seiner Kunst. Es gefiel ihm, sich dabei stets in der Pose des literarischen Berserkers zu präsentieren. Seine Bücher liefen mit Wortwitz und Einfallsreichtum Sturm gegen die Verhältnisse. Auch ich, das gebe ich unumwunden zu, zähle mich zu jener treuen Fangemeinde des Schriftstellers, die von „Außenstehenden“ gerne auch als verschworene Jüngerschaft bezeichnet und belächelt wird.
Zettel’s Traum ist das Schwergewicht unter den Büchern Arno Schmidts. Es ist gewissermaßen seine Antwort auf das große Vorbild James Joyce, auch wenn Schmidt selbst das gerne bestritt. Ein Ehepaar, das gerade Edgar Allen Poe übersetzt, besucht mit seiner 16-jährigen Tochter einen alten Freund. Das ist der erschreckend belesene, über alle Maßen besserwisserische und eigenbrötlerische Daniel Pagenstecher (what a telling name); ein Alter Ego Schmidts, ganz klar. Einen Tag lang, von Sonnenauf- bis untergang, spazieren sie durch die Heide, gehen baden, verrichten verschiedene Arbeiten im Haushalt und unterhalten sich dabei über Gott und die Welt und natürlich über POE. Daß dabei die lolitahafte Tochter den alternden Dichter sexuell mehr als verwirrt, ist nur einer von unzähligen Nebensträngen, die sich durch den gesamten Tagesablauf ziehen. Soweit der Inhalt, kurz und knapp wiedergegeben. Doch jeder Versuch, Zettel’s Traum zusammenzufassen ist von vornherein falsch, unvollständig und mißverständlich. Denn mit diesem Buch hat Schmidt alle bis dahin gültigen Grenzen in der deutschen Literatur gesprengt, inhaltliche und formale.
Augenfällig wird das allein schon durch die Form. Zettel’s Traum wurde (zunächst) von keinem Setzer in formschönen Blocksatz gegossen und mit augenfreundlicher Typographie veredelt. Schmidt und sein Verleger lieferten dem Leser das Faksimile von 1334 DIN A3 Schreibmaschinenseiten, zusätzlich versehen mit handschriftlichen Korrekturen, Anmerkungen, Zeichnungen und eingeklebten Fotos oder Zeitungsausschnitten.
In drei Spalten entfaltet sich der Text. In der Mitte die Haupthandlung, der Alltag mit all seinen Verrichtungen, daneben zum einen die Interpretationen zu POEs Werk und zum anderen weitere Abschweifungen, Zitate und Ergänzungen. Dabei sind rechter und linker Rand keinesfalls voneinander entfernte Pole. Jede Seite, so sagt es Schmidt, muß man sich in der Vorstellung zu einem Zylinder drehen, so daß die rechte und die linke Spalte ineinander übergehen.
Dann sind da die Etyms. Das sind die Kerne der Schmidtschen Sprachvorstellung. Schmidt selbst erklärt sie so:
<Was Worte sind, wißt ihr – ?>;/(sie nickten schnell:!)/(Glückliches Völkchen; mir wars nicht ganz klar,)).:<Also das bw spricht Hoch=Worte. Nun wißt ihr aber, aus FREUDs Traumdeutung, wie das ubw ein eigenes Schalks=Esperanto lallt; indem es einerseits Bildersymbolik, andrerseits Wort=Verwandheiten ausnützt, um mehrere Bedeutungen gleichzeitig wiederzugeben. Ich möchte nun diese neuen, wortähnlichen Gebilde ETYMS heißen: der obere Teil des Unbewußten: spricht ETYMS.>
Und noch einmal O-Ton Schmidt:
<Zettel’s Traum> mußte – allein schon ob der Etym-Basis – ein zu zwei Dritteln humoristisches Buch werden, das aber auch alles mögliche Andere natürlich zeigt: das Flickwerk unserer Eingeweide, und den Schmelz der Interpunktion.
Satzzeichen sind für Schmidt Ausdrucksmittel, die seinen Regeln folgen, nicht denen der Rechtschreibung; gleiches gilt für die Worte. Das bremst das Lektürevergnügen von Zettel’s Traum anfangs beträchtlich aus. Doch einmal festgelesen, wird das Buch zum Vergnügen. Zettel’s Traum ist Fluchtpunkt und Summe des Autors, ist monumental und umfangreich, Epos und Essay, Übersetzungstheorie und Dichterpschychogramm, Erläuterung zu Poe und Neudichtung, Erzählung und eigene Erzähltheorie in einem. In zehnjähriger Arbeit hat Schmidt dieses Buch mit Hilfe überquellender Zettelkästen komponiert, darauf spielt der Titel ebenso an, wie auf den unseeligen Weber Zettel aus Shakespeares Sommernachtstraum, der durch Zauberei verwandelt, merkwürdige Traumerlebnisse hat.
„Ich finde Niemanden, der so häufig recht hätte, wie ich!“ – Arno Schmidt
Bei seinem Erscheinen 1970 war Zettel’s Traum eine Sensation, die erste Auflage schnell vergriffen und ruckzuck Opfer verschworener Raubdrucker. Im Lauf der Jahrzehnte hat das Opus magnum kaum an Reiz eingebüßt. Nicht unbedingt geeignet für den Einstieg in das schriftstellerische Werk Schmidts, auch nicht unbedingt sein bester Roman, aber in jedem Fall sein bekanntester und am wenigsten gelesener. Dank der gesetzten Fassung im Rahmen der Bargfelder Ausgabe und dank der befristeten günstigen Ausgabe im Jubeljahr, läßt sich zumindest letzteres ändern.