Mysterien für alle – Poetische Skizzen und Notate von Joseph Beuys
Vermag Joseph Beuys als Künstler noch zu polarisieren oder ist er längst eingeschrieben und begraben im Kanon der bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts? Dort mag seine Position als zwar als bedeutend, mitunter als herausragend definiert sein, aber gilt er uns heute noch als relevant und aktuell? Abschließende Antworten will und kann der vorliegende Band der Suhrkamp Bibliothek nicht liefern. Doch anstoßen ließe sich mit ihm eine Überprüfung trefflich.
»Jeder Mensch ein Künstler!« »Zeichnen ist Denken.« »Die Revolution sind wir.« Das sind nur drei aus einer langen Liste von möglichen, markigen Aussagen, aufgrund derer Joseph Beuys wahlweise als Schamane, Harlekin und Fettclown verunglimpft oder erhöht werden kann. Wer polarisiert und aneckt, selbst in der Verkürzung, der provoziert. Doch Beuys hier zu verehren und dort zu verdammen, hilft beiden Seiten gleich wenig. Beschäftigung tut Not, nicht Verdrängung oder Totschlag-Kanonisierung. (Ich meine das wirklich ernst!)
Beuys steht für eines der größten utopischen Projekte, die jemals ein Künstler versucht hat in Gang zu setzten, nämlich nichts weniger als die von der Kunst her gedachte Veränderung des gesamten Gesellschaftsgefüges. Diesem Projekt wohnte keine fest gefügte Theorie als Nukleus inne, es sollte vielmehr als ein fortschreitender Prozess aufgefasst werden, der sich selbst permanent überprüft, in Frage stellt und die Richtungen wechselt.

Gerade dieses Prozesshafte rückt der Band Mysterien für alle in den Vordergrund. Versammelt ist eine Auswahl kleinerer Notizen aus dem Nachlass. Flüchtige Notate, Konzepte, Listen, Exzerpte, Skizzen und Entwürfe zu Manifesten. Sie alle können ebenso als Bilder betrachtet werden, auf denen die poetische Vorstellungswelt des Künstlers ausgebreitet wird. Stefan Popp betont im Nachwort, dass die von ihm getroffene Auswahl insbesondere den poetischen Zug der Notizen betont. Nicht im Sinne eines Manuskriptes, das die bewußte Vorstufe zur Veröffentlichung markiert, sondern als vorläufige Geste, als beiläufiger sprachlicher Impuls, der ähnlich dem romantischen Fragment Intuition und Dynamik verbindet, aber bewußt wage und unvollendet bleibt. Freilich erweitert Beuys dies um anarchische, praktische und auch agitatorische Züge.
Material=Aktion | Gedanke =Tat. Selbst der kleinste vergilbte Zettel, die Rückseite eines Papptellers oder wieder- und weiterverwertete Schreibmaschinenseiten dienen als poetische Projektionsflächen. Stets wird das Vorläufige des Gedankens betont, aber in der Abfolge der faksimilierten Seiten bildet sich doch das Grundgerüst des Beuysschen Denkens ab. Die humanistischen Wurzeln werden freigelegt (Erasmus, Cloots), die Antroposophie klingt an (Steiner), das Naturdenken und die Physik des Energieerhaltes (Heisenberg, Einstein) werden ebenso vereint wie das Kapital (Marx) mit den humanen Ressourcen des Individuums. In Nuce entwickelt sich vor dem Auge des aufmerksamen Lesers/Betrachters der Begriff der »sozialen Plastik«. Also die Idee, die ausgehend von der unitären Trinität der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit der französischen Revolution, das Kunstwerk nicht nur als Prozess, Aktion oder permanente Konferenz betrachtet, sondern als Entwicklung der Gesellschaft insgesamt. Die bestreiten und gestalten alle freien Individuen nach schöpferischen Prinzipien. Beuys versteht seine Revolution der »sozialen Plastik« als ein gewaltfreies, evolutionäres Unterfangen, das in der Pädagogik, in der Lehre der Erweiterung und des Überschreitens aller Konventionen, seinen Anfang nimmt und bis zur Parteigründung führt.
Den kleinen und kleinsten Aufzeichnungen in Mysterien für alle ist das in poetischer Form fragmentarisch eingeschrieben. Wer genau schaut, entdeckt viel auf diesen »Ansätzen zu Sternkarten für den irdischen Gebrauch«. Und ganz unabhängig davon ist das ausgebreitet Material in seiner gestischen Poetizität wundervoll anzusehen. Ürsprünglich nur angeschafft, um den »heimischen Beuys-Block« in der Bibliothek zu ergänzen, entpuppte sich dieser Band als erhellende Einführung in das Denken von Joseph Beuys, als eine handschriftliche Einladung zum künstlerischen und politischen Denken.

Kleinste Aufzeichnungen
Ausgewählt und mit einem Nachwort versehen von Steffen Popp
Gebunden, fadengeheftet, 198 Seiten
Berlin: Suhrkamp Verlag 2015 (=Bibliothek Suhrkamp Bd. 1492)

Die von Steffen Popp für die Bibliothek Suhrkamp zusammengestellte Auswahl fußt auf Das Geheimnis der Knospe zarter Hülle. Darin hatte Eva Beuys im Jahr 2000 für die Edition Heiner Bastian bei Schirmer/Mosel die verstreuten Aufzeichnungen nahezu vollständig ausgebreitet. Dieser ebenso opulente wie kostpielige Band ist auch noch erhältlich, beispielsweise bei buchhandel.de.
Optisch beeindruckend und mit vielen erhellenden Essays gespickt gibt auch der folgende Band umfassend Auskunft über Leben und Werk Joseph Beuys’. Er ist weit mehr als nur der begleitende Katalogband zur großen Beuys-Ausstellung im Hamburger Bahnhof, Staatliche Museen zu Berlin, 2008. Als Basisanschaffung zur Erstbeschäftigung und zur Verteifung wärmstens empfohlen.

Mit zahlreichen Essays und Abbildungen
Herausgegeben von Eugen Blume
Gebunden, 405 Seiten
Göttingen: Steidl Verlag 2008

Zum Schluss ein spontaner und assoziativer Exkurs: Christoph Schlingensief übrigens war auch so einer. Künstlerpersönlichkeiten wie er und Beuys fehlen derzeit, in der Kunst, in den Medien, im gesellschaftspolitischen Diskurs überhaupt.