merk=würdig (IV) – Meine ungelenken Denkübungen mit Roland Barthes
Am 12. November 2015 wäre Roland Barthes 100 Jahre alt geworden. Das könnte ich zum Anlass nehmen, den französischen Philosophen, Schriftsteller und Literaturkritiker umfassend zu würdigen; Allein, das vermag ich nicht, denn zu lückenhaftund fragmentiert sind meine Kenntnisse, zu naiv mein Verständnis. Aber es stehen drei Bücher von Roland Barthes in meinem Bücherschrank, die mir etwas bedeuten und mich wiederholt zu höchst ungelenken Denkübungen auf unterschiedlichen Feldern anleiten.
Die Sprache ist eine Haut.
(Roland Barthes)
Die Haut ist das größte Organ des Menschen. Wir können die Haut verletzten und strapazieren, aber niemals ablegen. Mag diese Haut ein wehrhafter Panzer sein oder eine hauchdünne Membran, farbig tätowiert oder durchscheinend blass, sie ist überlebensnotwendig. Genauso die Sprache. Den Tücken der Sprache auf die Spur zu kommen, und damit den Tücken des Lebens, war Barthes’ großes Anliegen. Sein Werk lehrt uns, wie Text und Leben, das Sprechen und Atmen, ineinander verwoben sind, sich gegenseitig bedingen. Barthes schreibt immer wieder darüber, in der Welt zu bestehen.
Theodor Adorno hat sinngemäß geurteilt, ein Philosoph dürfe nicht schreiben wie ein Schriftsteller, das mache ihn im Kreise der Fachphilosophen verdächtig. Vielleicht ist das der Grund, warum Barthes erst spät Einzug in die gelehrten Seminare deutscher Hochschulen gefunden hat. Er wurde bei weitem nicht so hofiert wie andere Vertreter des französischen (Post)Strukturalismus, bei aller Anerkennung. Roland Barthes hat sich den starren Regeln und Mechanismen des Fachjargons entzogen, er schrieb für Leser, die neugierig sind auf die Zusammenhänge und Abhängigkeiten in der (post)modernen Kommunikationsgesellschaft. Was aber beileibe nicht heißt, er wäre leicht zu lesen.
So griffig-schmissig Roland Barthes seine Titel formulierte (Der Tod des Autors, Fragmente einer Sprache der Liebe, Mythen des Alltags, Am Nullpunkt der Literatur), seine Texte türmen Barrikaden auf, turnen munter in luftigen Höhen, schlagen Salti und erfordern stets höchste Aufmerksamkeit. Im Kern lag Barthes daran über die engen Grenzen der Semiotik und Linguistik hinaus, moderne gesellschaftliche Phänomene wie Texte, Filme, Fotografie, Mode, Werbung oder die Liebe zu de-konstruieren und ihre Wesenskerne freizulegen, zu erläutern und gegebenenfalls zu entlarven.
Sein kommerziell erfolgreichstes, vielleicht auch sein persönlichstes Werk, Fragmente einer Sprache der Liebe aus dem Jahr 1977 (dt. 1984), ist jetzt in einer erweiterten Fassung neu erschienen und neu zu entdecken. In losen Fragmenten (Figuren), die zwar alphabetisch geordnet sind, aber als frei zu nutzender lexikalischer Speicher begriffen werden sollen, geht Barthes den Bedingungen der Liebe auf den Grund, jenem Urtrieb, dem sich kein Mensch entziehen kann und der im Idealfall Spiritualität und Sexualität in Einklang bringt. Von A wie Angst und Abhängigkeit, über Eifersucht, Habenwollen, Katastrophe, Sehnen, Selbstmord, Verausgabung, bis Z wie Zugrundegehen entsteht nicht das psychologische sondern strukturale Porträt des Liebenden. Eine Lektüre, die immer wieder aufgenommen werden kann, vielleicht sogar aufgenommen werden muss.
In Die helle Kammer widmet sich Barthes in seinen Betrachtungen nur vordergründig der Photographie; Im Kern ist es ein großes Buch über den Abschied und das Verschwinden und über den Tod der Mutter. (Ausführlich dargelegt in diesem älteren Beitrag.)
Und wie Barthes in Mythen des Alltags die Wahrheit hinter den Nebensächlichkeiten des Lebens entlarvt, habe ich im Sommer 2014 während der Zielankunft der Tour de France beispielhaft überprüft.
Literatur ist die Frage minus die Antwort.
(Roland Barthes)
Eines steht fest: Mit meinen ungelenken Denkübungen, zu denen mich Roland Barthes anregt, werde ich kontinuierlich fortfahren. Auch wenn er mich dabei mitunter in schmerzhafte Spagate treibt oder hart auf den Boden knallen lässt.
Die hier erwähnten Werke Barthes’ sind alle bei Suhrkamp erhältlich. Nähere Informationen und auch Leseproben finden sich auf der Autorenseite des Verlages.