Sehr melancholisch – Der klügste Junge der Welt
Endlich liegt diese wegweisende Graphic Novel in deutscher Übersetzung vor: Jimmy Corrigan von Chris Ware. Als der Band um die Jahrtausendwende in den USA veröffentlicht wurde, löste er eine Begeisterung aus, die weit über die Grenzen der Comicwelt hinaus ging. Schnell galt das Buch als ein Jahrhundertcomic und wurde auf eine Stufe gestellt mit Maus aus der Feder des legendären Art Spiegelman. Mit Jimmy Corrigan hat Chris Ware den Beweis geliefert, dass der Comic inhaltlich und stilistisch dem literarischen Roman ebenbürtig sein kann. Mehr noch, die Geschichte die hier ausgebreitet wird, ist in der ihr eigenen Intensität vielleicht nur im Comic erzählbar, ist – so gesehen – tatsächlich eine »Graphic Novel«!
Jimmy Corrigan ist ein dauerkränkelnder Enddreißiger, ein unauffälliger Büroangestellter ohne Ausstrahlung und Ambitionen. Unfähig soziale Kontakte zu knüpfen, fristet er ein eintöniges Leben, das lediglich durch permanente Kontrollanrufe der Mutter unterbrochen wird. Und Jimmy ist ein Träumer. In Gedankenspielen wird er zum kleinen Superhelden oder findet ein Frau, die ihn liebt und begehrt. Ein Brief seines Vaters, der nach jahrzehntelanger Abwesenheit die Beziehung zum Sohn wiederbeleben möchte, reißt ihn schließlich aus seinem lethargischen Alltag. Jimmy macht sich auf die Reise, doch viel zu sagen haben sich Vater und Sohn am Ende nicht.
Auf einer Strecke von nahezu 400 Seiten wird diese zunächst sehr simple Geschichte von Chris Ware immer feiner verästelt zu einer generationenübergreifender Saga der Familie Corrigan. Sie reicht bis ins 19. Jahrhundert, bis zur legendären Weltausstellung in Chicago, zurück. Dominiert wird das gezeichnete Epos von einem Gefühl, nämlich grenzenloser Einsamkeit und Sprachlosigkeit. Dieses Gefühl wiederum wird stilistisch großartig transportiert. Wie am Computer entworfen wirkt die komplexe Seiten- und Bildarchitektur, doch es handelt sich um akribisch-säuberliche Handarbeit, die von geometrischen Grundformen, einer fein nuancierten und breiten Farbpallette dominiert wird. Ware schafft es immer wieder, mit nur wenigen feinen Strichen sowohl große Gesten, als auch kleinste Fingerzeige festzuhalten. Häufig reduziert Ware seine Bilder zu Pictogrammen oder baut Seiten, die Organigrammen ähneln und in denen sich das Auge des Betrachters förmlich verlaufen kann.
Jimmy Corrigan ist eine Geschichte, unter deren glatter Oberfläche es ordentlich brodelt und kocht. Sie ist sehr filmisch und erzählt, wie nur große Filme das können, vom Schweigen, der Fremfheit und der Isolation zwischen den Einstellungen. Trotz detaillierter Bilder und ausuferndem »Story Telling« räumt Chris Ware dem Leser und Betrachter große Freiräume ein, die es zu füllen gilt. Und ein sich vom Rand her immer wieder einschleichender, knorriger Humor sorgt dafür, dass die Geschichte bei aller Melancholie zu keiner Zeit trist oder deprimierend wirkt. Sie bewegt und berührt das Herz.
Kein Zufall ist es übrigens, daß Jimmy Corrigan, der Protagonist des Buches, seinem Autor Chris Ware sehr ähnlich sieht. Das Buch ist durchaus autobiographisch gefärbt: auch Ware ist ohne Vater aufgewachsen und bekam irgendwann besagten Anruf. Später dann klingelte Art Spiegelman durch. Er hatte Zeichnungen von Ware gesehen und war begeistert. »Es war wie ein Anruf von Gott, oder so«, erinnert sich Ware an diese Situation.
In jedem Fall hat Chris Ware das Genre der Graphic Novel mit Jimmy Corrigan auf ein sehr hohes Niveau gehoben. Nimmt man die US-amerikanische Gegenwartsliteratur ins Blickfeld, muss er den Vergleich mit namhaften Kollegen nicht scheuen; zum Beispiel mit Jonathan Franzen. In Die Korrekturen hat auch der eine großartiges Familiengeschichte entworfen und sie durchmischt mit komplexen Studien der Gesellschaft. Paul Auster und David Foster Wallace kommen mir in diesem Zusammenhang ebenfalls in den Sinn. Ihren Romanen ist Wares Jimmy Corrigan ebenbürtig.
Aus dem Amerikanischen von Heinrich Anders und Tina Hohl
Handlettering von Michael Hau
Gebunden m. faltbarem Schutzumschlag, 364 Seiten
Berlin: Reprodukt 2013