Mit Odysseus scheitern – Diskurs-Pop als Belletristik funktioniert nicht
Als Komponist, Musiker und Songwriter hat Jochen Distelmeyer alles erreicht. Seinem Weg mit der Band Blumfeld und seinen Solopfaden sind Kritiker und Fans in somnabuler Verehrung gefolgt. Diskurs-Pop sei Distelmeyers Spezialität, so heißt es; also, aktuelle politische und gesellschaftliche Probleme in Songs verpacken zu können, die eingängig sind und gefällig, trotz Tiefgangs und Klippen. Nun, da die großen Blumfeld-Zeiten auch schon 20 Jahre zurückliegen, versucht der Barde neues und wechselt beherzt das Genre. Singen wie Homer möchte er, doch das misslingt. Ich sage es unverblümt, auf mich wirkt Otis, Distelmeyers Romandebüt, wie Fahrstuhlmusik im Vergleich zu homerischen Gesängen und der Held Odysseus schrumpft auf die Größe eines an sich selbst verzweifelnden Bohemiens im Berliner Kultur-, Nacht- und Partyleben zusammen.
Der Odysseus vom Prenzlauer Berg
Berlin im Winter 2012. Tristan Funke, Mitdreißiger und momentan wieder einmal Single, treibt ziellos durch die Stadt. Er sucht nach dem richtigen Ende seines Romans, ein Debüt natürlich, und nach sich selbst. Dabei sinniert er über Odysseus und seine Irrfahrten, über den Trojanischen Krieg und die tragischen Schicksale der Atriden, sowie über aktuelle politische und gesellschaftliche Ereignisse. Beide, Tristan und Otis, der Held seines Romans, verwechseln sich mit Odysseus. Zufallsbekanntschaften, Personen der Zeitgeschichte, seine Freunde; sie alle mutieren zu Figuren der Odyssee und zu Wiedergängern der Geschichte des Epos. Tristans Lebenswirklichkeit und -wahrnehmung verschieben sich, und seinen Roman, also die Geschichte des Odysseus-Otis, kann er nicht beenden, weil er als Odysseus-Tristan selbst kein rettendes Heimatufer erreicht. (Zu allem Überfluss ist er auch noch Tristan-Tristan, der Wagngersche Held, dem Liebe und Unglück stets untrennbar verschmelzen.)
Die Generation der Blumfeld-Ära ist älter geworden und hat ihren Zorn und ihre Lust auf Veränderung verloren, jetzt, in der Merkel-Ära, sind sie ziellos geworden, suchen ihr Glück in Ehe und Familie, in gesicherter Existenz und beruflicher Erfüllung. Doch an Distelmeyers Figuren nagen auch Krisen und Zweifel, Stillstand und Ratlosigkeit machen sich breit und breiter, selbst wenn der Augenblick hemmungslos gefeiert wird.
Wer zuviel will, erreicht meist wenig
Jochen Distelmeyer hat als Romanautor ein großes Problem. Er will zuviel. Mit Otis arbeitet er sich am großen Vorbild Odysseus ab und scheitert. Das Buch ist ein unentschiedener Zwitter aus Berlin- und Künstlerroman, aus Zeitgeistschmonzette und Schlüsselroman auf reale Personen der Berliner Kultur- und Politszene. So lustig das Anfangs auch erscheint, es wird schnell ermüdend.
Tristan Funkes Irrfahrt durch die nächtliche Stadt wirkt merkwürdig steif und konstruiert. Die Dialoge klappern künstlich, die Reflexionen des Heldes über sich und die Welt stelzen konstruiert und steif daher, die Erzählfigur wechselt Perspektive und Ton zu häufig ohne wirklich nachvollziehbaren Anlass. Figuren werden nur gestrichelt, nicht gezeichnet, sie tragen vor und sprechen nicht. Seitenlang wird in dem Roman referiert oder kommentiert und nur selten mit Verve lebendig erzählt. Streckenweise klingt Distelmeyers Prosa – ja, ich weiß, das ist jetzt wirklich böse – wie ein Schüleraufsatz Jahrgangsstufe 12, Deutsch Leistungskurs. Ich wähle willkürlich … Beispiele dieser Art gäbe es zuhauf.
Seine Wege hatten ihn in Hamburg nur selten ins Theater geführt, und so war er erst hier in Berlin dem Zauber der Schauspielkunst erlegen. (…) Vor allem das Spiel des neuen Stars des Ensembles, Stella Voigtländer, hatte ihn schlagartig gefangen genommen. Es war ihm, als spiele sie nur für ihn, und von ihrer mitreißenden Darstellung elektrisiert, hatte sich für ihn eine Verbindung hergestellt, die dem sonst Schüchternem alle Scheu genommen hatte.
Es ist ein Debütroman, dem Autor sei deshalb einiges verziehen, denn die Grundidee ist nicht schlecht, und am Ende, nach einiger Redundanz und Leerlauf, vermag der Roman mit einer schrillen und überraschenden Wendung noch einmal wirkungsvoll aufzutrumpfen. Doch unterm Strich ist das zu wenig, die Momente geistreicher Unterhaltung in diesem Roman kommen zu kurz. Schade. Jede Platte von Blumfeld und jeder Solo-Song von Distelmeyer hat mehr Bumms. Sie berührern, anders als der Roman, die Seele und hallen deutlich länger nach.