Das Museum der Träume – Neue Texte zu Alten Meistern
Zeit ist realtiv. 11 Sekunden sind für einen Olympiasieg im 100-Meter-Sprint eindeutig zu lang, für einen Blick auf ein Meisterwerk der Kunst eindeutig zu kurz. 11 Sekunden, solange steht angeblich ein Museumsbesucher durchschnittlich vor einem Bild, und die Zeit zum Studieren des Titelschildchens ist da schon drin. In dieser Zeit vermag der Blick niemals durch die Oberfläche des Gemäldes zu dringen, allenfalls wird das Dargestellte grob erfasst. Um die Tiefe eines Bildes auszuloten, müssen die Sinne länger arbeiten, müssen Blicke und Gedanken fokussiert werden.
22 Schriftstellerinnen und Schriftsteller (vollständige Liste unten) haben das Experiment gewagt, sie haben ein Gemälde aus der Galerie der Alten Meister des Kunsthistorischen Museum Wien intensiv betrachtet und sind in einen Dialog eingetreten. Herausgekommen ist die Anthologie Museum der Träume, die in den Bildern nicht einfach nur alte Schinken sieht, sondern die fremdartige Symbolik und Ikonographie der Meisterwerke als aktuelle und moderne Botschaften entschlüsselt und weiterspinnt. Den alten Meistern, die Daniel Uchtmann jeweils mit einer kurzen kunsthistorischen Betrachtung zusätzlich einführt, wird der Spiegel der Jetztzeit gegenüber gehalten.
Philosophisch, historisch, politisch – Aber immer sehr persönlich
Franz Schuh etwa gleitet von Henri met de Bles’ Hölle hinüber in eine Notaufnahme, ein Fegefeuer der Großstadt als Hort urbaner Leiden. Peter Paul Rubens hat seine Frau Helene porträtiert, nackt und bloß notdürftig bedeckt von einem kleinen Pelztuch. Dieses Bild hat Thomas Glavinic inspiriert zu einer entwaffnenden Betrachtung über die Nacktheit, die Scham und die Blöße. Bachmann-Preisträgerin Maja Haderlap läßt eine von Lots Töchtern auf dem Bild von Albrecht Altdorfer über den Inzest sinnieren, über Lust und Freiheit im Untergang. Doron Rabinovici schickt eine Magd vor das Bildnis von Judith mit dem Haupt des Holofernes von Carlo Saraceni. Sie ist eigentlich nicht im Bild, aber muss nach der Hinrichtung aufräumen; die den Dreck wegschaffen, haben keinen prominenten Platz in der Geschichte. Bei Milena Michiko Flašar werden die fallenden Schalen auf dem Bild der Apfelschälerin von Gerard ter Borch zum Sinnbild für den gefallenen Vater und die immerwährende Liebe. Und Anna Kim bezeugt Mitleid für die grausame Medusa von Rubens; das Monster, das allen das Fürchten lehrt ist hier nur Ausgeburt kranker, fehlgeleiteter, meist männlicher Geister der Antike und der Renaissance. Zu jedem einzelnen Text könnte ich hier eine kleine Lobeshymne anstimmen, aber das würde den Rahmen sprengen.
Aus der Spannung zwischen Kunst und Literatur wird ein grandiosen Katalog der Sprach-Bilder kompiliert, doch damit nicht genug. Den Gemälden und Texten werden aktuelle, preisgekrönte World-Press-Photos der vergangenen drei Jahre hinzugefügt. Sie zeigen Krisen- und Kriegsgebiete, Menschen in Not und auf der Flucht, aber auch Stille Momente des Glücks im Elend. Die fotografischen Zeugnisse aus der aktuellen Lebenswelt kontastieren und ergänzen die gemalten Bildwelten vergangener Jahrhunderte.
Die aktuellen Fotos und Details der Gemälde sind formatfüllend auf Doppelseiten gedruckt, dazwischen eingeschossen, ebenfalls auf Doppelseiten, assoziative Schlagworte und Zitate in großer Schrift, die literarischen Texte sind augenschmeichelnd gesetzt. Schon die Gestaltung des (fadengehefteten!) Buches verführt zum vor- und zurückblättern, schauen, lesen, verweilen und nachdenken. Zurecht sind die Gestalterin Larissa Cerny und der Verlag Brandstätter dafür zu einem der 14 schönsten Büchern Österreichs gewählt worden.
Ganymed goes Europe
Angeschoben und herausgegeben haben das wundervolle Buch Jacqueline Kornmüller und Peter Wolf; streng genommen ist Museum der Träume lediglich ihr Ausgangsmaterial (und gleichzeitig schriftliche Dokumentation) eines noch viel weiter ausholenden Projektes gewesen. Als Film- und Theaterregisseurin, beziehungsweise als Schauspieler und Dramaturg haben sich Kornmüller und Wolf wiederholt mit den Wechselwirkungen von Bildender Kunst, Sprache, Bewegung und Musik auseinandergesetzt. Die Perfomance Ganymed goes Europe im Kunsthistorischen Museum Wien war 2014 der vorläufige Höhepunkt dieser Arbeit. Spätestens jetzt wird klar, warum viele der Bildmeditationen wie theatralische Monologe oder Dialoge wirken und den lauten Vortrag förmlich fordern.
Das folgende Video zeigt eine Collage aus Bildern und Tönen des Wandeltheaters in der Galerie Alter Meister, das in leicht abgewandelter Form auch in Breslau/Polen sowie im Museum der Schönen Künste in Budapest gezeigt wurde.
Auf den Webseiten ganymedgoeseurope.com und wennessoweitist.com sind weitere Einblicke in die Arbeiten und Projekte von Kornmüller und Wolf zu entdecken. Ferner ist dem Buch ein kleiner Lageplan des Kunsthistorischen Museums Wien beigelegt, auf dem die Position der Bilder, die Seitenzahl des entsprechenden Textes und die zu wählende Nummer des Audioguides eingezeichnet sind. Denn, wer nicht selber lesen möchte, kann sich die Texte im Wiener Museum auch vorlesen lassen.
Selber im Museum schauen und träumen
Museum der Träume ist ein geistreiches und tiefgründiges Spiel mit Kunst und Sprache, mal leichtbeschwingt, mal erdenschwer. Doch immer unterhaltsam und anregend. Und spätestens nach der Lektüre dieser Anthologie ist klar, dass 11 Sekunden niemals genug sein können für ein Gemälde. Persönlich habe ich mich von diesem Buch verführen lassen, es selbst auszuprobieren: bei einem Besuch der von mir sehr geliebten Gemäldegalerie der Staatlichen Museen zu Berlin habe ich vor zwei meiner Lieblingsbilder die Gedanken fliegen lassen, Assoziationen notiert und versucht, auch kleinste Details und Nebensächlichkeiten im Gemälde wahrzunehmen. Sehr spannend war das, weniger spannend dagegen mein erster literarischer Textversuch danach. Aber auf dieses Spiel mit den Alten Meistern, auf dieses Gespräch über Lebenszeiten und -welten hinweg werde ich mich künftig öfter einlassen. Allein deswegen hat sich für mich die Anschaffung dieses Buches gelohnt.
Für Museum der Träume haben geschrieben: Péter Esterházy, Milena Michiko Flašar, Karl-Markus Gauß, Thomas Glavinic, Maja Haderlap, Peter Handke, Bodo Hell, Marc von Henning, Paulus Hochgatterer, Elfriede Jelinek, Walter Kappacher, Anna Kim, Lajos Parti Nagy, Martin Pollack, Doron Rabinovici, Angelika Reitzer, Franz Schuh, Clemens Setz, Gerhild Steinbuch, Andrea Winkler, Josef Winkler und Juli Zeh.
Schriftsteller schreiben über Meisterwerke der Kunst
Herausgegeben von Jacqueline Kornmüller und Peter Wolf
Broschur, fadengeheftet, 320 Seiten (mit 60 Fotos)
Wien: Verlag Brandstätter 2014