Paradies und Hölle – Eine Reise zu abgelegenen Inseln
Auch ich bin ein Atlas-Kind wie die Autorin dieses wunderschönen Buches; mit dem Finger über Landkarten zu fahren, im Atlas blätternd von Kontinent zu Kontinent zu springen, Flüssen und Strömen von der Quelle bis zur Mündung folgen, die ganze Welt in Händen halten und überall gleichzeitig sein. Das empfindet nicht nur Judith Schalansky als beinahe erotische Erfahrung. Der Atlas wird zum Traumbuch, die Karte zur Projektionsfläche für Sehnsüchte.
Judith Schalansky entführt uns mit dem Finger auf der Landkarte zu den einsamsten Inseln
Daß es im Zeitalter weltumspannender Flugreisen immer noch Orte gibt, die schwer zu erreichen sind, erscheint uns heute nicht mehr vorstellbar. Doch es gibt sie und Judith Schalansky hat sie gesammelt: fünfzig entlegene Inseln in den Ozeanen der Welt, fern anderer Eilande oder gar dem Festland. Schon ihre Namen setzen die Phantasie in Bewegung: Bäreninsel, Einsamkeit, Robinson-Crusoe, Himmelfahrtsinsel oder Süd-Thule … Für Judith Schalansky sind diese Flecken im Weltmeer exemplarische Beispiele für das „Prinzip Insel“.
Fünfzig Inseln, auf denen ich nier war und niemals sein werde.
50 Geschichten und 50 Karten im Maßstab 1:125.000
Halbleinen m. dreiseitigem Farbschnitt, 144 Seiten
Hamburg: mare Verlag 2009
Die Tatsache, daß von ihr aus das nächste Land Wochenreisen mit dem Schiff entfernt ist, macht die Insel in den Köpfen der Kontinentalbewohner zu einem idealen Ort und das vom Wasser umgebene Land zur perfekten Projektionsfläche für utopische Experimente und irdische Paradiese.
Jeder der fünfzig Inseln widmet Jusith Schalansky eine Karte im Maßstab 1:125.000. Da liegen sie gebettet in zartblauem Meer, Höhenzüge und Felsenriffe werden in dezenter Schummerung und mit feiner Schraffierung angedeutet. Und zu jeder Insel liefert die Autorin eine kleine poetische Miniatur, komponiert aus historischen Begebenheiten, Forschungsberichten, Legenden oder Texten der Weltliteratur. Geschichten, wie sie nur die Wirklichkeit schreibt, wenn sie mit wenigen Quadratkilometern irgendwo im Nirgendwo auskommen muss. Sie handeln von seltenen Tieren und seltsamen Menschen, von gestrandeten Sklaven und verirrten Entdeckern, meuternden Matrosen und vergessenen Schiffbrüchigen, braven Sträflingen und strafversetzten Beamten, kurzum: von freiwilligen und unfreiwilligen Robinsons. Schnell merken wir: die Insel kann ein Paradies sein, aber auch die Hölle. Genau wie die Karten geben auch die Texte nur so viel Information preis wie nötig ist, um der Phantasie genügend Freiräume zu lassen. Wie der Finger, soll auch der Geist wandern.
Die fünfzig Doppelseiten des „Atlas der abgelegenen Inseln“ wollen nicht aufklären, sondern verführen zum Träumen und Assoziieren. Bewußt bleiben in Text und Karte weiße Flecken stehen, aus ihnen wächst die poetische Kraft dieses Buches, eine Kraft, die kein Photobildband, kein prosaischer Reiseführer zu bieten vermag. Jedes Umblättern entführt den Leser und Betrachter in einen neuen Mikrokosmos, der gleichermaßen geheimnisvoll anziehend und unwirtlich abstoßend sein kann. Das Umherreisen in diesem Atlas, da bin ich mir sicher, ist befriedigender, als die vorgestellten Orte wirklich zu besuchen. Denn die Sehnsucht und die Phantasie des Atlas-Reisenden kann niemals enttäuscht werden; der real Reisende schon.
„Der Atlas der abgelegenen Inseln“ von Judith Schalansky betört alle Sinne des Lesers. Der Halbleinenbandes liegt wundervoll schmeichelnd in der Hand, Schrift, Satz und Layout sind exakt aufeinander abgestimmt und angenehm augenfreundlich, Zahlen und Fakten informativ aufbereitet. Dieser Atlas, haptisch, visuell und inhaltlich ein Genuss, hat die Auszeichnung „Schönstes Buch des Jahres“ wahrlich verdient.
P.S.: Das Buch gibt es inzwischen auch in einer günstigen Taschenbuchausgabe. Die ist (natürlich) nicht so schön wie die Originalausgabe. Den Taschenatlas trotzdem kaufen bei buchhandel.de.