»Erdogan soll Shakespeare studieren« – Eine Lesung mit Emrah Serbes findet nicht statt
Die Lesung findet nicht statt, denn der Schriftsteller kommt zu spät. Bedrückt, mit hängendem Kopf betritt er das Café-Reaturant Meyan*Süßholz in Berlin-Schöneberg. Emrah Serbes sieht übernächtigt aus, sehr müde und sehr traurig. Er bestellt einen Kaffee und kramt aus einem grünen Aktendeckel aus Pappe einen Stapel eng beschriebener Blätter hervor, ordnet sie fahrig, beginnt sofort neue Sätze am unteren Rand der Seiten zu notieren. Die 30 Menschen, die seit mehr als einer Stunde auf ihn gewartet haben, nimmt Serbes kaum wahr, er blickt nach unten auf seine Notizen, ist in Gedanken weit weg. Weit weg das ist Ankara, wo gestern bei einem Bombenanschlag vermutlich mehr als 100 Menschen gestorben sind, unter den Opfern sind auch Freunde von Emrah Serbes.
Geplant war eine fröhliche Buchvorstellung. Emrah Serbes’ neuer Roman Deliduman ist in der Übersetzung von Selma Wels vor einigen Tagen im Berliner Verlag Binooki eschienen. Ein türkisches Frühstück sollte es werden, mit einem Essen, wie es die Hauptfigur Çağlar im Roman für seine kleine Schwester Çiğdem zubereitet. Doch alle haben Verständnis, dass Emrah Serbes nicht nach einer Lesung zumute ist, oder nach Geselligkeit. Er habe die ganze Nacht geschrieben, sagt Selma Wels. Der Anschlag von Ankara, die vielen Toten und Verletzten seien ein Albtraum für Emrah, er wäre jetzt lieber dort, bei seinen türkischen Freunden, als hier bei seinen deutschen Lesern. Emrah Serbes hat sich inzwischen nach draussen verzogen, sitzt vor dem Lokal und raucht hektisch eine Zigarette, alle sehen ihm seine Wut an und seine grenzlose Trauer.
Nach 20 Minuten kommt er wieder herein, er möchte mit uns sprechen, aber nicht über den Roman, nicht über Literatur, sondern über das, was gestern die Türkei erschüttert hat.
»Ich werde nicht schweigen, ich werde nicht ruhig sein und aufhören zu demonstrieren, ich werde mich weiter lautstark einmischen. Die Attentäter werden nicht siegen.« Anfangs zittert Serbes’ Stimme ein wenig, doch schnell wird sie fest. Der Schriftsteller blickt plötzlich mit blitzenden Augen in die Runde, während Selma und Inci abwechselnd übersetzen, was er auf Türkisch sagt. Die Bomben hätten Erdogan und seine politsche Clique gezündet, daran gäbe es für ihn keinen Zweifel, fährt Emrah Serbes fort. Ankara sei der sicherste Ort der Türkei, tausende Polizisten seien in der Hauptstadt im Dauereinsatz, vor der genehmigten Demonstration gestern mindestens drei- bis viermal so viele, wie solle ein Attentäter dort unbermerkt derartig große Mengen Sprengstoff plazieren. Nur Erdogan nütze dieses Attentat, der Präsident und seine Getreuen setzten alles daran, das Land in eine Diktatur zu stürzen, alle Macht und allen Reichtum an sich zu reißen, dazu instrumentalisiere man auch die Islamisten, hole sogar die Dschihadisten vom Islamischen Staat ins Land, selbst hinterhältigste Guerillaaktionen seien erlaubt, so lange sie Erdogan stützten und hülfen.
»Nach den Explosionen hat die Polizei erst einmal alles abgeriegelt, feuerte Tränengas in die panisch flüchtende Menge, nicht einmal die Krankenwagen kamen durch. Dann rückten Wasserwerfer an und haben alle Spuren des Attentats buchstäblich mit Hochdruck weggespült. Alle Beweise, alles Blut, das die Menschen verloren haben, während sie sterbend auf die Rettungswagen warteten, wurde einfach fortgewischt und in die Gullis gespült.« Serbes trägt vor, was ihm Freunde gestern Abend und in der Nacht berichtet haben.
Staatspräsident Erdogan und seine Regierung haben eine dreitägige Staatstrauer angeordnet. Aber Mörder, so Emrah Serbes scharf, hätten kein Recht, Trauer zu befehlen. Das Blut könnten sie vielleicht von der Strasse spülen, aber den Blutgeruch könnten sie nicht vertreiben. Die Machthaber und ihre Helfer sollten Shakespeares Macbeth sorgfältig lesen, falls sie überhaupt lesen könnten, darin erführen sie, dass man sich noch so oft waschen könne, aber den Geruch des Blutes an den Händen werde man nicht los. Um bei Shakespeare zu bleiben, so Serbes weiter, eines Tages werde es Erdogan wie Richard III. gehen. Nur werde er nicht rufen: Mein Königreich für ein Pferd, sondern: Ein Flugticket für meinen Präsidentenpalast, für alle meine Reichtümer, die ich aus dem Land herausgepresst habe. Wir sollten nicht denken, er sage das nur, weil er hier in Deutschland sicher sei, weit weg vom Geschehen, genau dasselbe sage und schreibe er auch in der Türkei. Keine Anzeigen und Anklagen, egal wie viele es noch würden, könnten ihn davon abhalten.
»Ich bin sehr traurig, jetzt nicht bei meinen Freunden in der Türkei zu sein, und ich bitte Euch, zu entschuldigen, dass ich heute nicht über meinen Roman und über Literatur sprechen kann. Ich danke Euch.« Emrah Serbes blickt ein letztes Mal in die Runde, er lächelt sogar ein wenig, signiert sogar einige Bücher, die ihm zögernd zugeschoben werden, aber seine Augen sind weiter voller Trauer.
Deliduman werde ich nach diesem Vormittag/Mittag noch aufmerksamer lesen. Denn nun habe ich Emrah Serbes ganz direkt und persönlich als einen hochpolitischen und kritischen Schrifsteller kennengelernt. Auch die Geschichte um die kleine Çiğdem, die so großartig und virtuos den Moonwalk tanzen kann, ihren Bruder Çağlar und seinen Freund Bazillen-Cengiz, die ihr mit aller Kraft zu Ruhm verhelfen möchten, spiegelt die Politik und die Konflikte in der türkischen Gesellschaft von heute. Deliduman, der verrückte Rauch, verarbeitet die Ereignisse vom Sommer 2013, als der Gezi-Park in Istanbul gewaltsam geräumt wurde und am Taksimplatz Wasserwerfer und Tränengas die protestierende Bevölkerung auseinander trieben. »Deliduman ist wie der Gezi-Widerstand selbst: Wütend, traurig, hoffnungsvoll und fröhlich. (Cumhurriyet Gazetesi)« Ich bin sehr gespannt und werde beizeiten berichten.
Aus dem Türkischen von Selma Wels
Gebunden, 400 Seiten
Berlin: Binooki 2015