Ein Bildungsroman mit Spucke und Schweiß – »Über Bord« von Rudyard Kipling
Wie kann aus einem schnöseligen Millionärssöhnchen, das als Kind mit einer vierspännigen Ponykutsche den Park des väterlichen Anwesens durchkurvte und das mit goldenem Löffel auf den besten Bildungsanstalten mit Etikette und Dünkel gefüttert wird, wie kann aus so einem verzogenen Bübchen ein echter Kerl werden? Nun, man läßt ihn kurzerhand von einem Luxusdampfer über Bord gehen und schickt ihn bei den rauhbeinigen Kabeljaufischern vor Neufundland durch eine harte, nordatlantische Schule. Genau das – und eigentlich nicht viel mehr – exerziert Rudyard Kipling in seinem Roman Über Bord durch.
Spontan könnte man meinen, dies ist eine dieser für das ausgehende 19. Jahrhundert typischen Parabeln, die auf die inneren Werte der Menschen abheben, ohne Ansehen der sozialen Herkunft und des Standes, eine Geschichte vom Erwerb wahrer sozialer Kompetenz. Ja, durchaus, aber wie Kipling diese Geschichte erzählt, wie Gisbert Haefs sie ins Deutsche übertragen, Christian Schneider sie illustriert und wie die Edition Büchergilde sie als kleines Buchgesamtkunstwerk gestaltet hat, ist schon besonders.
Holen wir kurz Luft! Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert war Kipling sehr populär. 1907 erhielt er den Literaturnobelpreis. Den Rekord als jüngster Preisträger hält er bis heute. Nach dem Ersten Weltkrieg geriet er ein wenig in Vergessenheit. Kipling wurde nicht zuletzt wegen seiner familiären Herkunft und seines beruflichen Werdegangs als typischer Vertreter des Royalen Empires, nicht selten gar als britischer Imperialist, verkannt. Seine literarische Bedeutung tendierte (vor allem ausserhalb der Britischen Inseln) nach seinem Tod im Jahre 1936 plötzlich gen Null. Für eine erste Wiederbelebung sorgte 1967 Walt Disney. Er goss Kiplings bekanntestes Werk in eine zuckersüße, dabei durchaus schmissig-unterhaltende Zeichentrick-Komödie. Auch wenn nur die wenigsten Das Dschungelbuch mit dem Autor des Originals in Verbindung brachten und der Trickfilm wenig mit dem Originaltext zu tun hatte, der Name Kipling war wieder im Umlauf und eine bescheidene Renaissance des Autors nahm (auch ausserhalb der Britischen Inseln) langsam Schwung auf. Ab den 1970er Jahren wurden seine wichtigsten Werke dann wieder von namhaften Übersetzer*innen neu ins Deutsche übertragen. Die Bekanntheit Kiplings wuchs erneut und auch die Anerkennung seines literarischen Schaffens. Sein 150. Geburtstag am 30. Dezember 2015 hätte durchaus lautstärker und pompöser gefeiert werden dürfen, als dies geschah.
Kipling hat keinesfalls das imperialistische Empire verherrlicht, sondern Geschichten und Gedichte voller Tiefsicht und Gefühl geschrieben, voller Glauben an das Gute im Menschen und seiner Bestimmung für Höheres. So exotisch und fremdartig die von ihm beschriebenen Welten auch waren, so sehr er auch die Unterschieder der Kulturen und ihrer Denk- und Lebensweisen betonte und mit seinen urbritischen Wurzeln abglich, er erhob sich nicht, er unterwarf nicht. Kipling war im Grunde Humanist.
Eine zutiefst humanistische Botschaft ist auch Über Bord unsichtbar eingemeißelt. Nicht Geld und Ansehen allein, sondern Bildung und Wissen liefern den Schlüssel zum Erfolg. Diese Botschaft gibt der Vater, nachdem er den über Bord gegangenen und totgeglaubte Sohn wieder in die Arme geschlossen hat, Harvey Cheyne Junior im ersten wirklichen Gespräch von Mann zu Mann mit auf den weiteren Lebensweg. Disko Troop, der bärbeißige, aber grundgute Kapitän des Kabeljau-Schoners »We’re Here« formuliert es sinngemäß ähnlich: »Man lernt einen Mann nur richtig kennen, wenn man betrachtet, auf welche Art er sein Brot verdient.«
Keine Angst, Über Bord ist alles andere als eine moralinsaure Fabel. Kipling mischt geschickt die Genres des Bildungsromans, der Sozialstudie, des historischen Romans und der Abenteuerliteratur, fügt eine lebensnahe und exakte Beschreibung des Fischerhandwerks hinzu und würzt das ganze mit einer ordentlichen Prise Witz und Humor. Die Mannschaft der »We’re here« ist ein bunt zusammengewürfelter Haufen, alle Männer an Bord des Kabeljaufängers haben ihre Macken und auch wenn ihre Vergangenheit im Innern tiefe Wunden geschlagen hat, sie geben ihr Leben nicht auf. Diese herzensguten Männer nehmen den schiffbrüchigen Harvey auf und lehren ihn, den verwöhnten Millionärssohn, im Dory herumzurudern, die Angelschnüre zu beködern und auszulegen, den Kabeljau herauszuziehen, auszunehmen und einzusalzen. Ja sogar das Steuer des Schoners darf er bei schwacher Brise irgendwann übernehmen. Beim Lesen schmeckt man das Salz auf der Zunge, riecht das Meer und den Fisch, spürt den eisigen Wind der Neufundlandbänke im Gesicht, so echt und detailliert beschreibt Kipling das harte Leben an Bord. Die Fischer reden in schönstem Slang, spinnen feinstes Seemansgarn, sind einfach eine tolle Truppe.
So frisch-modern kommt das daher, dass man sich sehr gut vorstellen kann wie sensationell und auch verwirrend das auf Kiplings Leser am Ende des 19. Jahrhunderts gewirkt haben muss. Lebenswelt und Arbeitsalltag der Fischer konnte Kipling so gut schildern, weil er auf einer Reise in die Hafenstädte des Nordostens der USA genau recherchiert hat, inklusive eines Fischzuges (allerdings nur auf einem Schellfisch-Boot). Auch den im Buch so ergreifend geschilderten jährlichen Gedenkgottesdienst für die für immer auf See gebliebenen Männer hat Kipling in Gloucester besucht. Gekonnt hat er das Erlebte anschließend verwoben mit derm Fabulierten. Übrigens auch die Eisenbahnfahrt, die Cheyne Senior nebst Gattin im eigenen an unterschiedliche Linien angehängten Salonwagen in Rekordzeit von San Francisco quer durch Amerika bis nach Gloucester transportiert, hat Kipling mit Hilfe eines ihm bekannten Eisenbahnkönigs so genau ausgearbeitet, dass nach Veröffentlichung des Buches genau diese Rekordzeit realiter aufgestellt (und sogar noch leicht unterboten) werden konnte.
So liebevoll die Kabeljaufischer gezeichnet sind, ihre Tage sind gezählt. Kipling verschweigt den industriell-maschinellen Aufstieg der USA nicht, auch wenn er eine gehörige Portion Sozialromantik und Idealismus in seine Story rührt. Er ist Realist, wenn es um die Zukunft geht, und Optimist. Am Ende ist auch Harvey Junior eine Karriere als erfolgreicher Eisenbahnmagnat und Reeder vorherbestimmt. Sein Freund Dan, der Sohn des Schoner-Kapitäns und einst geduldiger erster Lehrmeister in allen maritimen Dingen, wird sein Angestellter und Untergebener. Doch beide sind zuvor durch eine harte Schule des Lebens gegangen, eine Schule die ihnen Demut, Bescheidenheit, Ehrlichkeit und den Wert der Freundschaft gelehrt hat. Ihre Zukunft wird bestimmt von schnellen transkontinentalen Eisenbahnverbindungen und hochseetüchtigen Stahldampfern, denen die Flotte der tradtionellen Kabeljaufischer nicht mehr entgegenzusetzen hat als dem Untergang geweihte Seefahrerromantik.
Wie gesagt, all das hat Gisbert Haefs wundervoll-lebendig, manchmal schräg, aber immer glaubwürdig ins Deutsche gehoben, allem voran briliert die Sprache und der Snack der Kabeljaufischer. Seine Übersetzung ist bereits 2007 im Mare Verlag erschienen, für die vorliegende Ausgabe hat Haefs sie noch einmal überarbeitet und mit einem lesenswerten NAchwort versehen. Christian Schneiders sorgfältig recherchierte und bis ins kleinste Detail stimmigen Illustrationen erweitern den Text um eine optisch-opulente zweite Ebene. In einer Einschubtasche auf dem Leineneinband steckt eine gefaltete Seekarte, im Inneren überzeugt das angenehm in der Hand liegende und fadengeheftete Buch mit einem augenfreundlichen Schriftbild und Satzspiegel. So müssen Bücher sein, mit denen wir sofort auf Reisen gehen wollen. Über Bord ist wie ein kleines Logbuch und bestens geeignet, den großen Geschichtenerzähler Rudyard Kipling (neu & wieder) zu entdecken.
Herausgegeben und übersetzt von Gisbert Haefs
Mit Illustrationen von Christian Schneider
Gebunden, 312 Seiten
Frankfurt/M.: Edition Büchergilde 2015
P.S. – Zwei lohnende Zeitungsartikel zu Rudyard Kipling:
»Gesetz des Dschungels, Gesetz des Empire« von Werner von Koppenfels; NZZ, 25.12.1015. Ein lesenswerter Artikel zum Geburtstag Rudyard Kiplings und über offene Wünsche.
Ein weiteres Loblied auf Kipling schrieb Jan Küveler in Die Welt am 30.12.2015. Über Kiplings Leben zwischen Okzident und Orient und seine Utopie vom »Empire State of Mind«.