Bilanz einer ersten Woche – »Meine Zeit mit Ulrich (2)«
Woraus bemerkenswerterweise nichts hervorgeht
Stand der Dinge: Erstes Buch, Zweiter Teil, Kapitel 33. Plansollübererfüllung! Ich habe 165% dessen gelesen, was zu lesen war, mehr als das gesetzte Lesepensum von täglich 15 Seiten erledigt. Genuss und Mühe gehen Hand in Hand. Die literarische Dichte des Textes ist herausfordernd, Musil protzt förmlich mit geschliffener Brillanz. Jeder Satz möchte den vorherigen übertreffen, jeden erweiterten Gedanken schleift Musil in noch schillernderen Facetten als seinen jeweiligen Ausgangspunkt. Eine sprachliches Fünf-Sterne-Menü serviert in üppigsten Portionen, keine konzentrierte Übersicht auf dem Teller, sondern ein rauschhafte Folge von Geschmacksexplosionen. Man kann sich dran überfressen, wenn man nicht aufpasst. Der Mann ohne Eigenschaften ist virtuos, meisterlich, perfekt. Alles glänzt, so dass es beinahe blendet. Aber: Man kann auch sehr schnell den Faden verlieren.
»Eine Art Einleitung« hat Musil den ersten Teil (knapp-kurze 19 Kapitel) überschrieben, davon ausgehend konstantiere ich flapsig, Der Mann ohne Eigenschaften sei »eine Art Roman«. Natürlich wird fortlaufend erzählt, aber dabei mehr gedacht als gehandelt. Die Kapitel stehen da wie eine Reihe von Monolithen, jedes für sich fein gehauen und bearbeitet, jedes für sich überlebensfähig und funktionstüchtig. Auch losgelöst vom durchstrukturierten Textkörper, könnte man sie lesen, weil jedes für sich in seiner philosophischen, ideengeschichtlichen, psychologischen, soziologischen, historischen und, lieber Leser, füge hier ein, was immer dir noch an Attributen einfallen mag, Dichte derart viel Material bereithält, das es anderen Autoren für ganze Erzählungen, Novellen und, wenn es sich um besonders einfallslose und faule Geister, handelt, auch für ganze Romane ausreichte. (Das war jetzt der Versuch einer Stiladaption musilscher Prägung, nur viel, viel, schlechter als das Original.)
Kurze Zitate? Nicht möglich!
Ich halte fest: höchst konzentriertes Lesen ist gefordert. Allen Bemühungen, »schöne Sätze« anzustreichen oder knappe, prägnante Zitate herauszulösen, wohnt hoffnungsloses Scheitern inne. Bei Musil ist jeder Satz »schön«, oder zumindest jeder zweite. Zitate geraten unweigerlich lang. Zu allem und jedem ließe sich aus dem Text Sinnreiches und Gehaltvolles herausfiltern. Ich könnte Anmerkungen und Anstreichungen in jeder Zeile machen.
Nur eine von unzähligen Beobachtung möchte ich an dieser Stelle stellvertretend hervorheben. Musil behandelt, natürlich, möchte man ausrufen, auch den großen geistesgeschichtlichen Umbruch am Schnittpunkt zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert. Eine Zeit größter Nervosität, Beschleunigung und Zersplitterung. Eine Zeit, in der die Seele verlorengeht. Eine Zeit ähnlich der unseren? Durchaus! Mir kommt vieles, was die Figuren des Romans ansprechen und durchleiden, was der all-allwissende Erzähler (zu dem in einem gesonderten Beitrag irgendwann mehr) kommentiert und einschleust beklemmend zeitnah vor. Zum Beispiel dies:
Eine Seele. Was ist das? – Es ist negativ leicht bestimmt: es ist eben das, was sich verkriecht, wenn man von algebraischen Reihen hört. (…) Von Automobilen und Röntgenstrahlen kann man ja sprechen, das löst noch Gefühle aus, aber was sollte man mit allen unzähligen anderen Erfindungen und Entdeckungen, die heute jeder Tag hervorbringt, anderes anfangen, als ganz im allgemeinen die menschliche Erfindungsgabe zu bewundern, was auf die Dauer recht schleppend wirkt! (…) Sogar die dem Menschen unmittelbar nahegehenden Fragen wie die edle Einfachheit Griechenlands oder der Sinn der Propheten lösten sich, wenn man mit Kennern sprach, in eine unüberblickbare Vielfältigkeit von Zweifeln und Möglichkeiten auf.
Der Wert und die Kraft der Seele gehen zwangsläufig verloren, wenn der Ort, an der die Seele gerne verbleiben, atmen und leben soll nach der Zwangsvorstellung einer »überamerikanischen Stadt« eingerichtet wird,
wo alles mit der Stoppuhr in der Hand eilt oder stillsteht. Luft und Erde bilden einen Ameisenbau, von den Stockwerken der Verkehrsstraßen durchzogen. Luftzüge, Erdzüge, Untererdzüge, Rohrpostmenschensendungen, Kraftwagenketten rasen horizontal, Schnellaufzüge pumpen vertikal Menschenmassen von einer Verkehrsebene in die andre; man springt an den Knotenpunkten von einem Bewegungsapparat in den andern, wird von deren Rhythmus, der zwischen zwei losdonnernden Geschwindigkeiten eine Synkope, eine Pause, eine kleine Kluft von zwanzig Sekunden macht, ohne Überlegung angesaugt und hineingerissen, spricht hastig in den Intervallen dieses allgemeinen Rhythmus miteinander ein paar Worte. Fragen und Antworten klinken ineinander wie Maschinenglieder, jeder Mensch hat nur ganz bestimmte Aufgaben, die Berufe sind an bestimmten Orten in Gruppen zusammengezogen, man ißt während der Bewegung, die Vergnügungen sind in andern Stadtteilen zusammengezogen, und wieder anderswo stehen die Türme, wo man Frau, Familie, Grammophon und Seele findet.
Was bislang geschah und nicht weiter ausgeführt wird
Überhaupt: die Seele. Über sie wird im Fortgang von Ulrichs Geschichte noch mehrfach zu berichten sein. Ápropos Geschichte: hier ein Stenogramm dessen, was bislang geschah. Ich bin ausgehend von einem ostwärts über den Atlantik wandernden, barometrischen Minimum, in dem Isothermen und Isotheren ihre Schuldigkeit taten, sprich an einem schönen Augusttag im Jahre 1913, in Wien gelandet und habe dort Ulrich und Kakanien kennengelernt. Habe festgestellt, dass ein Mann ohne Eigenschaften zwingend einen Vater mit Eigenschaften besitzen muss, ferner mindestens eine Geliebte. Habe erfahren, dass Ulrich seinen Körper ebenso fit hält wie seinen Geist, aber als Mathematiker nicht recht von der Stelle kommt. Der Prostituiertenmörder Moosbrugger beschäftigt den niederen, mittleren und hören Adel, weil er so grundverschieden anders denkt und handelt als sie. Er hält sich für gesund, die anderen alle ihn bedauerlicherweise für geistig irre. Die Parallelaktion nimmt Fahrt auf, und Ulrich hofft darin Größe und bislang vergebens angestrebte Bedeutung zu finden, obwohl der Erzähler, als auch wir Leser, um die Aussichtlosigkeit all dieser »großen, vaterländischen Bemühungen« wissen. Das für 1918 geplant Jubeljahr zum 70. Thronjubiläum des österreichisch-ungarischen Kaisers ist ebenso obsolet, wie die preußische Feier zum 35. Thronjubiläum des deutschen Kaisers, gegen die sich die Parallelaktion richten soll. Alle wissen um die Ereignisse und Folgen des Ersten Weltkrieges, nur nicht die handelnden Figuren des Romans, allen voran Diotima, die an die Schwelle des Alterns gerückte, aber immer noch attraktive Gattin des Sektionschefs Tuzzi und der preußische »Nabob und Schöngeist« Paul von Arnheim, dem Diotima hoffnungsvoll die Zügel zur Parallelaktion in die Hände legt.
An dieser Stelle noch nicht berücksichtigt und (vielleicht) späteren Ausführungen vorbehalten ist der Möglichkeitssinn, den jeder Mensch besitzen müsse, der über einen Wirklichkeitssinn verfügt. Ferner: Ulrichs Verhältnis zu Frauen und die geistig-moralische Verfassung Kakaniens.
Gedanken und Stil
Der Interviewer: Wie ordnen Sie ihren Roman in die zeitgenössische Epik ein?
Musil (taumelt wie unter einem gut plazierten Kinnhaken und hat nur noch die Kraft zu sagen): Erlassen Sie mir die Antwort.
Der Interviewer (beharrt darauf und beginnt auszuzählen, in der Hoffnung als »Vertreter der Presse« im Finish zu siegen. Aber.)
Musil (der Champion der geistigen Boxkämpfer schlägt den Interviewer knock-out): Wo ich meinen Roman einordne? Ich möchte Beiträge zur geistigen Bewältigung der Welt geben. Auch durch den Roman. Ich wäre dem Publikum sehr dankbar, wenn es weniger meine ästhetischen Qualitäten beachten würde und mehr meinen Willen.
Interview mit Oskar Maurus Fontana in »Die Literarische Welt«, Berlin 30. April 1926
Stil, so Musil weiter, sei für ihn die exakte Herausarbeitung eines Gedankens. Meine weitere Lektüre wird beweisen, ob ich in den Wucherungen des Stils die Gedanken finden und nachvollziehen kann. Ob ich sie ebenso exakt in meinen Protokollen zusammenzufassen und weiterzureichen in der Lage bin, wage ich allerdings bereist jetzt zu bezweifeln. Bitte, bleibt mir und Ulrich dennoch gewogen.
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