Die durch die Hölle gehen – »Die Verbrannten« von Antonio Ortuño
Migration heißt, in Bewegung zu sein, sich auf Wanderschaft zu begeben, getrieben von der Hoffnung auf ein besseres Leben. Die Anlässe für Migration sind vielfältig: Krieg, Bürgerkrieg, ethnische oder religiöse Verfolgung, Armut. Bilder von Menschen, die aufbrechen, um eine bessere Zukunft zu finden, sehen wir seit Monaten täglich in allen Medien. »Wir schaffen das«, heißt es und es wird viel gesprochen über Integration, Willkommenskultur und freundliche Aufnahme der Menschen bei uns. Weniger im Fokus steht, dass zwischen Aufbruch und Ankunft ein langer und beschwerlicher Weg liegt. Die Begriffe Mittelmeerpassage und Balkanroute beschreiben nur unvollkommen, was es für Migranten heißt, auf Grenzzäune und Polizeisperren, und dahinter auf mitleid- und teilnahmslose Politiker und Verwaltungen zu stoßen. Ganz zu schweigen von der kriminellen Energie und der menschenverachtenden Brutalität der Schleuser.
Beherrschen in Deutschland und Europa die Schicksale der Migranten die Presse und Öffentlichkeit intensiv erst seit einigen Monaten, so diktieren sie in anderen Regionen der Welt seit Jahren die Schlagzeilen. In Mexiko zum Beispiel. Gelegentlich tauchten auch bei uns Berichte aus diesem Land auf den Auslandsseiten der Zeitungen auf, heute sind sie durch die Inlandsberichte auf den Seiten eins und drei vollständig verdrängt. Doch in Mexiko ist der Zug der Flüchtlinge und Migranten keineswegs zum Stillstand gekommen. Nur sehen wir ihn nicht mehr, hier vom fernen Europa aus. Mexiko ist die Balkanroute des amerikanischen Kontinents. Wer aus Latein- und Südamerika aufbricht, um vor Armut, Elend, Hunger und Verfolgung ins »gelobte Land« USA zu gelangen, muss durch Mexiko. Für Migranten ist dieses Land eine Hölle. Von diesem Gang durchs Fegefeuer liefert uns Antonio Ortuño in Die Verbrannten einen schonungslosen Report.
Die Verbrannten sind 40 Frauen, Männer und Kinder, die auf ihrem Weg in die USA abgefangen werden und bei einem Feuer in einer kasernenartigen Zwischentunterkunft in Santa Rita elend ums Leben. Es war Brandstiftung; eine Bande schwerbewaffneter Krimineller warf vor den Augen der Polizei Molotowcocktails ins Gebäude. Santa Rita ist eine (fiktive) Stadt in Südmexiko, rund um die einzige große Straße mit einigen prächtigen Gebäuden wuchert ein Konglomerat ärmlicher Häuser und Hütten. Santa Rita ist Transitzone: Alle die hierherkommen wollen weiter, die Flüchtlinge aus San Salvador und Guatemala in die USA, die Beamten der »Nationalkomission für Migration« (NkM) eine Stufe nach oben auf der Karriereleiter, Geschäftsleute in eine größere Stadt mit mehr Kunden und Umsatz. Die örtlichen Polizisten wollen nur Ruhe und keinen Ärger, sie drücken sich vor ihrer Arbeit, indem sie sich kaufen lassen und konsequent wegschauen.
Im Mittelpunkt der Geschichte stehen zwei Frauen. Da ist Yein, die ihre Famile bei dem Anschlag in der Notunterkunft verloren hat und die auf Rache sinnt. Und da ist Irma, genannt Negra, die mit ihrer Tochter nach Santa Rica gekommen ist, um beim NkM ihren neuen Job als Sozialarbeiterin anzutreten. Negra läßt das Schicksal der Migranten nicht kalt, anders als ihre Kollegen in der Behörde, die nur daran interessiert sind, in immer gleich lautenden, elgant formulierten, aber nichtssagenden Pressemitteilungen staatliches Bedauern auszudrücken. Hilfe bieten sie keine an, Mitleid wird allenfalls geheuchelt. Negra verbündet sich mit Yein und versucht mit Hilfe des Journalisten Luna die wahren Verantwortlichen für das Maasaker zu finden. Doch der Sumpf aus Korruption ist tief und Luna versinkt in ihm auf nimmer Wiedersehen.
Die Geschichte von Negra unterschneidet Ortuño mit der ihres Exmannes, einem, mit Verlaub, Riesenarschloch. Der »Kleingeist«, so nennt ihn Negra, ist Lehrer in einer Metropole Mexikos, hadert damit, von Frau und Kind verlassen worden zu sein, obwohl er ihnen doch generös einen Urlaub in Disneyland finanziert hat. Er ist ein Spießer und Rassist, wie er im Buch steht, hasst alle Migranten, und als eine dieser Frauen bei ihm um Arbeit bittet, nimmt er sie nur bei sich auf, um sie sich wie einen Hund zu halten, sie sadistisch zu quälen und zu vergewaltigen. Doch er bekommt seine Strafe …
Ortuño verpackt seine Schilderung der Vorhölle, durch die die Flüchtlinge geschickt werden, als Thriller, verzichtet aber weitestgehend auf alle traditionell-überspannten Techniken des Genres. Die Verbrannten besticht durch einen sachlichen, nüchternen Reportageton. Kühl und an der Oberfläche scheinbar emotionslos, zittert diese Prosa darunter, zwischen den Zeilen, aber vor Empörung. Seine suggestive Kraft schöpft dieser Roman aus der schonungslosen Aufzählung der Fakten. Die distanzierte Nüchternheit nimmt bisweilen extrem grausame und eklige Züge an, vor allem, wenn die inneren Monologe der Figuren dem Leser auch kleinste biologischen Details der Verbrechen und die gleichzeitige Reflexion darüber nicht vorenthalten. Ein Beispiel von vielen möglichen …
Die Haut einer halb ausgegrabenen Leiche. Den aufgedunsenen Unterleib einer anderen, das von einem letzten Blutschwall rot glühende Gesicht. Eine fette, wurmstichige alte Frau, die aussah wie ein geplatzter Ballon. Das leere, ausdruckslose Gesicht eines zwölfjährigen Jungen, dem Blut aus den Augen gelaufen war. Alle beisammen, ein Berg aus Fleisch im Brachland, von einer Bande pfeifender Rotzgören ausgerottet, die wahrscheinlich noch nicht einmal Schamhaare hatten.
Rivalisiernde Schlepper-Banden, korrupte Polizisten und staatliche Beamten, Schläger, ohnmächtige Helfer: Das perfekt-perfide Ausbeutersystem der Vorhölle in Santa Rica kennt nur Großverdiener, Nutznießer und Mitläufer. Verlierer sind immer die Migranten (und alle, die sich auf ihre Seite schlagen). Antonio Ortuño präsentiert in Die Verbrannten einen erschreckenden Horrorfilm mit Untertiteln, in denen alle gezeigten Grausamkeiten fortwährend sarkastisch (auch zynisch) kommentiert werden. Das ist kein leichter Tobak. Aber: All das, was die Flüchtlinge in Ortuños Roman an Hass, Gewalt und Rassismus ertragen, steht stellvertretend für das, was Flüchtlinge überall auf der Welt ertragen müssen. Da liegt der wahre, furchteinflößende Schrecken dieses Buches.
Dass Empathie und Gefühl todbringend sind, bemerkt Negra viel zu spät. Am Ende schickt sie mit ihrem gutgemeinten Beistand Yein buchstäblich ins Verderben, und ausgerechnet der Kollege, mit dem sie sich auf eine Affäre eingelassen hat, entpuppt sich als einer der fiesesten und skrupellosesten Teufel im Fegefeuer. Die Verbrannten gipfelt in einem grotesk-blutigem Finale, wie es ein Quentin Tarrantino nicht hätte besser ersinnen können … und, ganz am Ende, in einer Begegnung zweier Akteure der Geschichte glimmt dann doch noch ein kleiner Funken Hoffnung auf. Ein beklemmend-großartiger Roman.
Aus dem Spanischen von Nora Haller
Gebunden, 256 Seiten
München: Verlag Antje Kunstmann 2015
Antonio Ortuño wurde 1976 in Guadalajara geboren. Das Magazin Granta hat ihn 2010 auf die Liste der wichtigsten spanischsprachigen Autoren gesetzt. Die Verbrannten ist sein vierter Roman und der erste, der in deutscher Übersetzung erscheint. Ich würde es sehr begrüßen, wenn andere ebenfalls übersetzt würden.