Schwerelos und transparent – Das Mädchen mit den Orangenpapieren
Der Wind reißt das Fenster auf, Mohren, Vulkane, Adler, Pinguine und Fabelwesen wirbeln durcheinander. Unausprechliche, verheißungsvoll klingende Wörter geistern durch die Nacht: PRINCIPESSA DI CEFALU, SANGUINELLE, MORO, ACIREALE. Elsa schläft.
Das Mädchen mit den Orangenpapieren spielt in der Mitte der 50er Jahre. Elsa lebt mit ihrem Vater in einer kleinen Stadt am Rande der Alpen, unweit des Chiemsees. Sie sind erst vor kurzem aus Dresden hierhergezogen, nachdem Elsas Mutter gestorben ist. Elsa wird oft gehänselt wegen ihres Dialekts und weil sie wegen eines Hüftleidens hinkt. Doch in Pauli hat sie einen Freund gefunden, der sie versteht. Elsa ist aufgeweckt und intelligent, das fällt auch ihrem Lieblingslehrer Kapuste auf; der einfühlsame Pädagoge bringt Elsa dazu, Orangenpapiere zu sammeln und öffnet ihr die Türen in die Welt der Musik und der Literatur. Dann kommt für einige Monate noch Saskia in die Schule, die Tochter eines britischen Besatzungsoffiziers.
Elsa, Saskia und Pauli verbringen einen kurzen Sommer zusammen, der Bewegung und Veränderung in ihre Leben bringt, aber auch neue Unsicherheiten und Verletzungen; es sind kleine Katastrophen, die über sie hereinbrechen, die Leiden auf dem Weg ins Erwachsensein. Das hat viel auch mit Abschied, Einsamkeit und Trennung zu tun.
Das federleichte, transparente Papier der Blättchen, mit denen die Orangen eingewickelt sind und die Elsa sammelt ist der heimliche Held dieser kleinen Erzählung. Papier, das weiß der leidenschaftliche Büchersammler, Übersetzer und Essayist Hanns Zischler, ist ein Stoff der die Zeiten überdauert und alles transportiert, was ihm anvertraut wird.
Papier ist als Informationsträger so alt wie die Menschheitsgeschichte. Dauerhafter als Informationsträger ist nur noch Stein, weswegen die Geologie eine weitere, heimliche Rolle spielt; der Grund des Chiemgaus, der vom Flüßchen Ache transportierte Mergel, die Schroffheit und Härte der Berge, der Kreidestein von Wiltshire, wohin es Saskia am Ende verschlägt und der das berühmte »Westbury White Horse« in einen Hügel zeichnet.
Doch diese geheimen Protagonisten bemerkt der Leser nicht auf Anhieb. Zunächst nehmen ihn nur das Leben der Figuren und der oberflächliche Lauf der Geschichte gefangen. Er beginnt zu lesen, meint mit den knapp 100 Seiten schnell fertig zu sein. In flottem Tempo sausen die ersten Absätze vorbei. Doch dann, hoppla, verringert sich das Lesetempo unwillkürlich. Gerade weil die Sätze so knapp und stilsicher, die Wortwahl und das Tempo präzise und fein austariert sind, wird die Lektüre des Text gebremst. Jedes Wort will aufgenommen, gewogen und verarbeitet werden. Mit knappen Angaben werden Charaktere sicher und treffend gezeichnet, viele Informationen, auch viele wichtige, werden im Vorübergehen in Nebensätzen mitgeteilt, etwa der Tod von Elsas Mutter, die Sehnsucht nach der alten Heimat Dresden oder Saskias Heimweh nach England. Das Trauma des Krieges findet sein Symbol in einem einarmigen Hausierer, der sich bei Elsa und Saskia kurz ausruht, eine Suppe isst und dann weiter zieht; das durchgehnd hohe Alter der Lehrer an Saskias Schule ist ein weiterer ebenso knapper Hinweis auf die verlorengegangene Generation.
Jeder Absatz, jedes Kapitel ist eine kleine wohlgeformte Welt für sich, mit jeweils eigenen Botschaften, mal offen, mal versteckt. Sie formen einen Text, der als Ganzes, übrigens durchgehend im Präsens geschrieben und ohne Gattungsbezeichnung, wiederum wie aus einem Größeren herausgetrennt zu sein scheint.
Genauso verhält es sich mit den Orangenpapieren, die Elsa sammelt. Eigentlich sind sie eine Nebensächlichkeit, nur zum Schutz der empfindlichen Früchte beim Transport gedacht. Doch sie entwickeln ihr Eigenleben; die Abbildungen, Namen und Texte auf den transparenten Blättchen sind Symbol und Auslöser für die Sehnsucht nach Ferne und Freiheit. Bei Kapuste lösen sie Erinnerungen an eine frühere Reisen nach Sizilien und eine Wanderung auf den Ätna aus, für Elsa sind sie der Träger von Hoffnungen und dem Wunsch nach dem Aufbruch ins Unbekannte. So sind es dann auch die auf dem Bett ausgebreiteten Orangenpapiere, auf denen Elsa und Pauli ihre Liebe entdecken, die sie, Blatt für Blatt, Motiv für Motv, anleiten, die Unschuld der Kindheit entgültig abzulegen.
Das Mädchen mit den Orangenpapieren ist poetisch und realistisch, zeitlos und historisch verankert, melodisch und nüchtern. Hanns Zischler hat seinen Lesern ein wundervolles literarisches Kleinod geschenkt, das auch beim dritten oder vierten Lesen immer noch neue, funkelnde Facetten zeigt.
Für die Internetplattform »Zehn Seiten« hat Hanns Zischler einen Ausschnitt aus Das Mädchen mit den Orangenblättern vorgelesen.
Eine große Sammlung von Orangenpapieren ist auf dieser Webseite zu bestaunen.