
Archiviert & durchgesehen: Meine Lieblingsbücher des Jahres 2015
Dies ist kein tiefschürfender Jahresrückblick. Der Anlass ist ein ganz schlichter: Aus dem Blogarchiv habe ich zehn Bücher herausgefischt, die mich im abgelaufenen Jahr besonders überrascht und erfreut haben. Eine Favoritenliste als Bild- und Textgalerie.

Sie legte sich zwischen die Neugeborenen und sang mit – Lyrik aus Sápmi
Lyrik aus Sápmi. Der Band »Erbmütter / Welttöchter« mit Gedichten von Rauna Magga Lukkari und Inger-Mari Aikio-Arianauk bietet weitaus mehr als nur einen neugierigen Blick über den Tellerrand. Die Minderheitenliteratur aus dem entlegenen Winkeln Nordeuropas erweist sich als sehr weitsichtig und weltläufig.

Mit Nägeln im Kopf zurück ins Mittelalter – »Telluria« von Vladimir Sorokin
»Telluria« von Vladimir Sorokin ist eine Dystopie, ja, aber eine parodistische. Dieser Roman ist eine Groteske, eine bissige Satire auf unsere Zeit der hybriden Kriege, ökonomischen Krisen und unseren verlogenen Konsumglauben. Gleichzeitig zerlegt Sorokin mit seinem Roman den Roman. Sein geschichtliches Panoptikum präsentiert er als stilistisches Panoptikum und als Schweinsgalopp durch die russische Literaturgeschichte.

Alles relativ … oder!? – 100 Jahre »Allgemeine Relativitätstheorie«
Vor 100 Jahren hielt Albert Einstein in der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin seinen ersten öffentlichen Vortrag über die »Allgemeine Relativitätstheorie«. Einsteins Idee erschütterte die Grundfesten der Physik und hält bis heute Naturwissenschaftler in Atem. Zum Jahrestag zwei allgemeinverständliche Einführungen ins Thema: Eine von Max Born und eine von Einstein selbst.

Eine brutale und schonungslose Parabel – »Das große Heft« von Ágota Kristóf
Mit »Übungen zur Abhärtung des Körpers« und »Übungen zur Abhärtung des Geistes« trainieren sich 9-jährige Zwillingsbrüder eine physische und psychische Hornhaut auf Leib und Seele. »Das große Heft« ist eine messerscharfe, auf glasharte Hauptsatz-Prosa reduzierte Geschichte. Ihre Botschaft: Mit Liebe und Mitleid ist in totalitären Zeiten nicht zu überleben.

Mysterien für alle – Poetische Skizzen und Notate von Joseph Beuys
Ürsprünglich nur angeschafft, um den »heimischen Beuys-Block« in der Bibliothek zu ergänzen, entpuppte sich dieser Band als erhellende Einführung in das Denken von Joseph Beuys. Die faksimilierten »Kleinsten Aufzeichnungen« aus dem Nachlass mischen Poesie und Politik, sind »Ansätze zu Sternkarten für einen irdischen Gebrauch« und obendrein ein bibliophiles Kleinod.

Ein Buch ist erst ein Buch, wenn es ein Buch geworden ist – Ein Gestalter berichtet
Warum manche Bücher schön sind und andere nicht. Und warum und wie wir das unbewußt wahrnehmen. Der Buchgestalter Friedrich Forssman gehört unbestritten zu den Besten seiner Zunft. In »Wie ich Bücher gestalte« gestattet er einen Blick in seine Werkstatt. Der Gestalter, so Forssman, bewegt sich zwischen Freiheitsgraden und Notwendigkeiten, nur eines darf er nicht, seine Persönlichkeit in den Vordergrund schieben.

Mary Grey vs. Elisabeth I. – Inger-Maria Mahlke hat (k)einen historischen Roman geschrieben
So virtuos Mahlke auch mit dem sorgfältig recherchieten historischen Material jongliert, so farbig auch das Colorit sein mag und so geschliffen-prägnant ihre Sprache, es fehlt, das überraschende Moment in diesem Historiendrama. Ein zeitgenössischeres Setting hätte vielleicht mehr Spannung hinein gebracht in den beschriebenen Kampf einer Frau um Freiheit und Selbstbestimmung.

Männerbilder zwischen Apotheose und Klischee – Die zwölf Apostel der Monique Schwitter
In »Eins im Andern« zieht die Icherzählerin eine Lebens-Liebens-Bilanz in Form einer zeitgenössischen Heiligenlegende. Ein durchaus vielschichtiges Beziehungsbrevier, das mit seinen amüsanten Apostel-Variationen zu überzeugen weiß, ohne in allzu großen Heiligenbildchen-Kitsch-Verdacht zu geraten. Ein kluges Buch über das Leben, die Liebe und den Tod.

Sog und Tableau – Die Prosa der Valerie Fritsch als Phänomen und Paradoxon
Alle Wetten auf einen sicheren Shortlistplatz für Valerie Fritsch und »Winters Garten« wurden verloren. Der »Deutsche Buchpreis« hat, wie der DFB-Pokal, so scheint’s, seine ganz eigenen Gesetze. Nun bin ich zu spät mit meiner immer wieder aufgeschobenen Besprechung. Oder auch nicht: denn das Buch ist weiter im Handel und im Gespräch. Ich rücke allerdings ab von einer klassischen Rezension und konzentriere mich stattdessen auf einzelne Aspekte der Prosatechnik Fritsch‘ und beziehe mich dabei auf Beiträge weiterer Buchpreisblogger.
Eigentlich müssten wir tanzen – Eine Apokalypse von Heinz Helle
Dieser Roman ist ein Schlag in die Magengrube. Eine verstörende Analyse der fragilen Strukturen unserer Zivilisation, der Vergänglichkeit von Freundschaft und ein Balanceakt auf dem schmalen Grat, auf dem wir entlang der Abgründe zur Barbarei wandeln.
Gehen, ging, gegangen – Jenny Erpenbeck konjugiert die Lage der Flüchtlinge
Jenny Erpenbeck konjugiert die Lage der Flüchtlinge. Ein notwendiger und wichtiger Roman zur aktuellen Situation, der niemals den moralischen Zeigefinger hebt und mit Fakten gespickt informiert. »Gehen, ging, gegangen« briliert mit unendlich viel gutem Willen, aber es fehlt leider an Schärfe, Kontur und Reibungsfläche. Unterm Strich bleibt Erpenbeck zu brav, zu blass und möchte es allen Recht machen.
Als aus Pop Politik wurde – Frank Witzel schreibt Geschichte
Es geht um eine manische Bestandsaufnahme der Bundesrepublik. Frank Witzel betreibt Geschichtsschreibung, indem er Phänomen und Inhalt in einem literarischen Teilchenbeschleuniger aufeinanderzurasen und kollidieren laßt, und er verpackt die Analyse, in urkomische Schelmenromanakrobatik. Das ist in dieser Form sicherlich anstrengend, aber ausgesprochen lohnend.
Nagasaki – Der Mythos der entscheidenden Bombe
Vor 70 Jahren wurden die Atombomben von Hiroshima und Nagasaki abgeworfen. Waren sie wirklich entscheidend? Klaus Scherers widerspricht vehement dieser Darstellung und stützt sich auf neue historische Forschung, Dokumente und ergreifende Interviews mit Zeitzeugen.
Eine Erkundung der Welt als Reise zu sich selbst durch 69 Hotelzimmer
Präzise beobachtet ein Reisender die Welt und sich selbst. Die besten Geschichten liefert der Zufall, aber nur, wenn er zugelassen wird im Erleben und Denken. Kristallisationspunkt aller Episoden ist ein Hotelzimmer.
Das Salz in der Wunde oder: Die Revanche des Parvenüs
Der Klassiker der französischen Moderne erzählt paradigmatisch die Geschichte eines Emporkömmlings in den 1920er Jahren. Ein Parvenü, der auf die Mechanismen des Kapitalismus setzt und die Kraft der Werbung und Medien.
»Wir werden nicht mehr Goi und Jüdin sein« – Israelische und deutsche Autoren über das andere Land
Die »dritte Generation« lotet die Untiefen eines komplizierten Verhältnisses aus und schaut nach vorn. Gibt es Normalität zwischen Israelis und Deutschen? Nein. Aber neue Lässigkeit. Gemeinsam Feiern und doch nicht vergessen.
Weiter als der Himmel – Die Leere im Universum und im Leben
Pippa Goldschmidt ist Astronomin und hat einen Roman über Astrophysik geschrieben. Im Mittelpunkt steht Jeanette, die eine revolutionäre Entdeckung macht, ein Trauma ihrer Kindheit bewältigt und Geborgenheit und Liebe sucht. Ein Roman, der in distanziert-sachlichem Ton enormen Sog entwickelt und mit Metaphern groß wie Galaxien aufwartet. Ein Buch über die Leerstellen im Universum und im Leben.
Kafka entziffern – »Der Process« in der Handschrift
Die Zeit ist reif für einen kleinen Zwischenbericht zu einem besonderen Leseabenteuer. »Der Process« von Franz Kafka in der Historisch-kritischen Ausgabe von Roland Reuß. Mit dem Finger auf dem Blatt krieche ich langsam durch Kafkas Handschrift. Die Beschäftigung mit dem Faksimile ist gleichzeitig eine Expedition ins Dickicht der Editions-Philologie.
Generationen und Kontinente – Die Unamerikanischen von Molly Antopol
Es ist verblüffend. Die Vereinigten Staaten von Amerika bringen immer wieder neue, großartige Schreibtalente hervor. Vielleicht wird jenseits des Atlantiks das literarische Schreiben und Erzählen mehr als Handwerk begriffen, als hier bei uns im »Alten Europa«. Creative Writing, in Deutschland gerne verpönt und belächelt, gehört in den USA an vielen höheren Schulen und Universitäten zu den […]
Der Fluch des Grindwals – Vater und Sohn unterwegs
Ein Roman, so karg und einfach wie der Schauplatz seiner Handlung. Die Natur auf den Färöerinseln, jener sturmumtosten Inselgruppe im Atlantik, ist schroff, rau und unwirtlich, und das Leben dort ist hart, sehr hart und entbehrungsreich. Davon erzählt Heđin Brú in Vater und Sohn unterwegs und von Zeiten des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbruchs. Alte Traditionen […]